Das Geheimnis der Salzschwestern
inzwischen völlig aufgebraucht, und wie von der Bank bereits befürchtet, war sie mit den Zahlungen wieder in Verzug geraten. Und auch Whit hatte seine Drohungen wahr gemacht. Er kannte tatsächlich Leute bei der Harbor Bank, und die waren leider ganz seiner Meinung, was diese Situation anging.
»Miss Gilly, man hat Ihnen für das Anwesen ein akzeptables Angebot unterbreitet«, hatte Mr Monaghy zwei Tage nach dem letzten Schreiben der Bank am Telefon erklärt. »Wir raten Ihnen wirklich, es anzunehmen. Ehrlich gesagt wollen wir Ihr Land nämlich gar nicht, aber wir sind natürlich an die Bedingungen des Darlehens gebunden. Unseres Erachtens gäbe es mit dieser Lösung hingegen nur Gewinner.«
»Mir war gar nicht bewusst, dass es sich hier um ein Spiel handelt«, hatte Jo geknurrt. »Und meine Antwort lautet nein.« Dann hatte sie den Hörer aufs Telefon geknallt.
Jetzt blickte sie auf den Horizont hinaus. Das Gelände des Salzguts hätte doch eigentlich weitläufig und geheimnisvoll wirken sollen, war aber in Wirklichkeit nur ein Fleckchen ungenutzten Potentials in der Marsch. Sie schaute zu den Salzbecken hinüber. Wenn sie sich wieder aus diesem Schlamassel herausarbeiten wollte, dann musste sie sich auf die Ressourcen konzentrieren, die ihr zur Verfügung standen. Jo wusste, dass dieses Land unter den richtigen Umständen große Erträge erwirtschaften konnte. Einst waren die Ufer des Kaps für ihr Salz berühmt gewesen. Jetzt war ihr Gut nur noch das geisterhafte Abbild jener fetten Jahre. Oder vielleicht war es doch eher ein unentdecktes Juwel statt eines Überbleibsels aus alter Zeit. Seltsam, es ist doch immer alles eine Frage der Perspektive , überlegte sie, während sie über einen bröckelnden Damm stieg und sich tiefer in den Matsch hineinwagte. Manchmal merkt man gar nicht, was man da hat, bis man es zu verlieren droh t.
»Das sieht aus wie Schnee.« Dee stand wankend auf einem schmalen Damm und blinzelte ins Spätnachmittagslicht. Ihr Bauch war in der letzten Phase der Schwangerschaft und unglaublich aufgebläht. Jo dachte, dass sie noch nie jemanden gesehen hatte, der so schwanger war, und das traf auch tatsächlich zu.
Claire war vor Wut rasend gewesen, als sie herausgefunden hatte, im wievielten Monat Dee bereits war, aber Jo hatte das nicht überrascht. Mit einer Figur wie Dees konnte man vermutlich ganz ordentlich zulegen, bevor irgendjemandem etwas auffiel. Jo fragte sich, was sie ihnen sonst noch alles verschwiegen hatte. Bei ihr konnte man eigentlich mit so ziemlich allem rechnen. Einmal hatte Jo Dee erwischt, als sie aus Claires Zimmer kam.
»Ich … ich wollte nur sehen, ob ich mir vielleicht eine alte Bluse ausleihen kann«, hatte sie gestammelt, aber war sie nicht noch am Tag davor von Jo mit einem ganzen Stapel Klamotten ausgestattet worden?
»Nimm lieber welche von meinen Sachen«, hatte Jo gesagt. »Und wenn ich du wäre, würde ich um Claire besser einen großen Bogen machen.« Claire war Dee gegenüber zwar halbwegs höflich, begrüßte sie einsilbig oder mit einem Nicken, Jo war sich aber immer noch nicht sicher, ob ihre Schwester nicht zusammen mit all den süßen Sachen auch einen Racheplan auskochte. Jetzt seufzte Jo, strich sich über die Brauen und betrachtete das Becken, das vor ihr lag.
»Sind Sie sicher, dass ich das übernehmen soll?«, fragte Dee. »Es kommt mir so vor, als würde es bei mir jeden Augenblick losgehen.«
Jo holte die Flocken weiter mit der Harke ein. »Das ist bis jetzt die beste Kruste des Jahres.« Ihre Stimme wurde sanfter. »Wusstest du eigentlich, dass es hier früher mal an der ganzen Küste solche Salinen gab? Als ich klein war, lagen hier sogar noch ein paar von den alten Siedebottichen herum. Die waren zwar leer und schon halb verrostet, hatten aber die Zeiten überdauert.«
Jo steckte den Finger in die Schüssel, in die sie die Flocken gab, und bot Dee etwas davon an. Sie wartete ab, bis Dee sich das Salz in den Mund geschoben hatte, und beschloss dann, das Mädchen zu testen. »Schnell«, drängte sie. »Sag mir das Erste, was dir durch den Kopf geht. Was ist deine früheste Erinnerung?«
Dee schloss die Augen, und ein Lächeln huschte über ihre Züge. »Meine Mutter singt mich in den Schlaf.«
»Wen liebst du?«, fragte Jo in der Hoffnung, dass Dee nicht »Whit« sagen würde. Sie seufzte erleichtert, als das Mädchen einfach nur die Hände auf den Bauch legte. Bislang wirkte Dees Herz rein, aber Jo hatte sie ja nur nach Vergangenheit
Weitere Kostenlose Bücher