Das Geheimnis der Salzschwestern
irgendwohin musste, dann wählte er dafür den kürzesten Weg, ohne unvorhergesehene Pausen. Er zögerte, und Dee hielt den Atem an.
»Nein, geh du ruhig«, sagte er schließlich. »Ich schaue in der Zwischenzeit die Vorräte durch.«
Dee war erleichtert, an der Seite ihres Vaters mit einem festen Ziel den Strand entlangzumarschieren, hätte nämlich für wenig Entspannung gesorgt. Stattdessen wollte sie in den Dünen hin und her wandern und sich im eisigen Wasser die Füße abkühlen. Sie wollte das Meer mit allen Sinnen kennenlernen – über die Haut und die Zunge –, so wie Mädchen das eben taten, und nicht wie ein Miniatursoldat beim Manöver.
Sie sah Cutt dabei zu, wie er ins Auto stieg und langsam davonfuhr. Mit jedem Meter, den er sich von ihr entfernte, wurde ihr leichter ums Herz. Dee lief hinunter zum Wasser und entdeckte einen Strand ganz nach dem Geschmack der alten Pilger: Vor ihr erstreckten sich farbloser, mit Steinen übersäter Sand und Wellen, die wie strafende Schläge auf das Land trafen. Enttäuscht stieß sie einen Seufzer aus. Und im Winter würde es hier zweifellos noch trostloser aussehen. Die wenigen blassen Farben – die Seetangtupfer auf dem blaugrauen Sand – würden unter einer feuchten Decke aus Nebel und Eisregen versinken.
An diesem Ende dieses Uferabschnitts türmten sich ganz in ihrer Nähe furchteinflößende Felsen auf, die so wirkten, als hätten ein paar Riesen dort mit Würfeln gespielt und sich schließlich gelangweilt abgewandt. Das Land verengte sich hier zu einem Zipfel, auf dem die Kirche stand. In der entgegengesetzten Richtung wölbte sich der Strand landeinwärts und erstreckte sich lang und träge vor ihr. Er endete in einer weiteren Dünenkette. Dee fragte sich, was wohl dahinter lag, also zog sie ihre Jacke wieder an und schlenderte los, um sich das anzuschauen, die Schuhe in der einen Hand, die Socken in der anderen. Zu ihrer Linken stieg die Böschung sanft an.
Der Strand war weitläufiger als erwartet. Sie hatte noch nie über einen besonders guten Orientierungssinn verfügt, aber in Prospect konnte sie Entfernungen so gar nicht abschätzen. Ihre Füße versanken im Sand, ein einzelner Schritt kam ihr eher vor wie sechs, und ihre Beine schmerzten und verkrampften sich angesichts der ungewohnten Anstrengung. Aber es fühlte sich auch gut an. Es lenkte sie zumindest von den Stichen in der Brust ab, die sie immer dann verspürte, wenn sie an ihre Mutter dachte, daran, wie dürr und bleich sie in ihrem Bett gelegen hatte.
Dee wusste nicht, was sie hinter den Dünen eigentlich erwartet hatte. Vielleicht noch mehr Strand oder eine Ansammlung von Felsen oder vielleicht eine Straße, aber sie entdeckte dort etwas ganz anderes. Sie stand nämlich am Rand von Jo Gillys Salzmarsch. Unten schnitt ein breiter Kanal das Areal von den Dünen ab. Das Meerwasser floss in eine Art großen Teich, und danach wurde die Rinne enger und speiste kleinere Becken, und schließlich verzweigte es sich zu einem verwirrenden Netz aus Gräben und mehr oder weniger quadratischen Becken, die durch Erdwälle voneinander getrennt wurden. Das war vermutlich die seltsamste Landschaft, die Dee je gesehen hatte – einsam und doch geschäftig, geordnet und chaotisch zugleich. Es wirkte überhaupt nicht wie eine von Menschenhand ausgeführte Konstruktion, sondern eher wie das Werk durchtriebener Feen.
Dee entdeckte auf der Anlage nur zwei Gebäude. Ihr am nächsten stand eine Art Scheune oder Lagerschuppen, der nicht besonders alt wirkte. Auf der anderen Seite der Marsch erhob sich hingegen in weiter Ferne ein uraltes Bauwerk. Ganz offensichtlich ein Wohnhaus – nicht sehr groß, mit einer ausladenden Veranda, und wie alle Gebäude in Prospect mit Schindeln verkleidet. Das Haus hatte zwar mehr Fenster als die Scheune, war aber genauso hässlich. Joannas klappriger Truck parkte davor, ansonsten war jedoch kein Lebenszeichen zu sehen, und darüber war Dee auch froh. In der Stadt hatte sie die Narben der Salzlieferantin schon unheimlich gefunden, sie wollte nicht auch noch hier draußen, mitten im Nichts, mit ihnen konfrontiert werden.
Dee lief die Düne entlang und betrachtete die Wasserlandschaft der Salzmarsch, die sich vor ihr erstreckte. Die Becken, die in Wirklichkeit nur flache Senken mit schlammigem Grund waren, leuchteten in den verrücktesten Farben: Lila, Rostbraun, Eisengrün, und in einem Bassin war das Salz blutrot. So etwas war ihr noch nie zuvor untergekommen.
Sie stieg die
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