Das Geheimnis der Salzschwestern
Sie ihre Schwester Jo noch nicht getroffen? Ich hätte gedacht, dass sie inzwischen schon mit einer Kostprobe von ihrem Salz bei Ihnen vorbeigeschaut hätte.«
Cutt gab eine Art Knurren von sich, als Jos Name fiel, und schob sich die Hände in die Taschen.
»Wie ich sehe, hatten Sie bereits das Vergnügen«, sagte der Priester sanft. »Ich weiß, dass sie unheimlich aussieht – vor Jahren ist sie in ein furchtbares Feuer geraten –, sie ist aber ganz harmlos. Ihre Familie bewirtschaftet schon seit Generationen die Salzmarsch hier draußen.«
»Kommt sie denn gar nicht zur Messe?«, fragte Dee.
Pater Flynn zögerte. »Sie … sie lebt ziemlich zurückgezogen. Und mit ihrer Schwester kommt sie nicht so gut klar.«
Dee sah zu Claire hinüber. »Na, ich kann verstehen, warum.«
Mr Weatherly seufzte. »Offensichtlich hast du inzwischen schon einige von den alten Geschichten gehört. Claire und Joanna haben seit fast dreizehn Jahren kein Wort mehr miteinander gewechselt. Claire war damals schuld an dem Feuer, in dem ihre Schwester so entstellt wurde. Und als sie dann auch noch Whit Turner geheiratet hat, hat das endgültig zum Bruch zwischen ihnen geführt.«
Dee lehnte sich vor. Das wurde ja immer besser. »Wieso?«
Pater Flynn sah ein wenig unbehaglich drein, Mr Weatherly beantwortete ihre Frage jedoch bereitwillig. »Weil Whit Turner vor langer Zeit in Jo verliebt war.«
Dee trat einen Schritt zurück und unterdrückte ein triumphierendes Lächeln. Sie hatte ein Näschen für Menschen, die nicht das waren, was sie zu sein vorgaben. Ein Schwindler erkennt eben den anderen. Ihr Vater packte sie am Ellbogen, Dee wollte aber möglichst viele Fragen stellen, wo jetzt gerade alle so gesprächig waren. »Und was ist mit der Muttergottes dort drüben? Warum hat die kein Gesicht?«
Mr Weatherly presste die Lippen aufeinander. Plötzlich sah er gar nicht mehr so nett aus.
Jetzt übernahm wieder Pater Flynn. »Auch sie gehört zur Geschichte der Gillys«, erklärte er. »Die Leute hier im Ort nennen sie Unsere Liebe Mutter Des Ewigen Salzes.« Seine Miene verdüsterte sich, und er faltete die Hände. Dee fragte sich, was es wohl mit den aufgemalten Angelhaken und dem Auge auf sich hatte, Pater Flynn wirkte jedoch auf einmal so niedergeschlagen, dass sie nicht zu fragen wagte. Mit einem Mal hatte sie große Lust, den Priester in den Arm zu nehmen. Oder was man eben sonst so machte, wenn man alte Leute trösten wollte, die unvermittelt melancholisch wurden. Der Pfarrer atmete tief durch und trat plötzlich ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. »Es war schön, dich kennenzulernen, Liebes, aber nun entschuldige mich bitte, ich muss noch kurz etwas mit den Turners besprechen.«
Dee beobachtete ihn dabei, wie er an Claire herantrat, und ihr fiel auf, dass sie ihm nur mit den Fingerspitzen die Hand schüttelte. Wieder fragte sie sich, ob diese Muttergottes wohl die liederliche Seele eines Rotschopfes hatte. Erst als sie die Kirche längst verlassen hatten, wurde Dee klar, dass Pater Flynn, der alte Bock, gar nicht auf ihre drängendste Frage geantwortet hatte, nämlich die, was denn mit dem Gesicht der Muttergottes geschehen war, und das machte sie umso neugieriger auf diese neue Stadt.
Es war bereits später September, aber noch so mild, dass Dee ohne Jacke draußen herumlaufen konnte. Sie krempelte die Ärmel ihrer Bluse hoch und genoss die Sonne auf der nackten Haut. Es war schön, von etwas berührt zu werden, das nicht sie selbst war. All die keuchenden Jungen, die sie hinter sich gelassen hatte, vermisste sie nicht unbedingt, aber ihr fehlte einfach Gesellschaft, und wenn es nur jemand war, der ihr nach einem harten Tag im Restaurant ein wenig die Schultern massierte.
Die Kirche lag abseits der Stadt, etwas weiter in die Bucht hinein auf einer kleinen Landzunge. Dee konnte den offenen Ozean sehen und die Wellen brechen hören. Hinter der Kirche gab es Sanddünen, und sie sehnte sich danach, die Schuhe auszuziehen, die Zehen in den feinen Kies einsinken zu lassen und zu sehen, wohin ihre Füße sie tragen würden. Die anderen Kirchgänger waren inzwischen aufgebrochen, selbst Claire Gilly Turner und ihr gutaussehender Mann. Pater Flynn hatte die Türen des Gotteshauses verschlossen und war verschwunden. Die Show war offensichtlich vorbei.
Dee drehte sich zu ihrem Vater um. »Lass uns doch eine Runde drehen«, schlug sie vor. Erstaunt blickte Cutt auf. Er war eigentlich kein großer Spaziergänger. Wenn er
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