Das Geheimnis der Salzschwestern
Dünen hinab und stellte fest, dass es unten etwas wärmer war. Die Sanddämme hielten den Wind ab, und die Luft fühlte sich hier seltsam an, als wäre sie irgendwie dicker. Auf dem Gelände schienen sich Schrott und Müll aus Jahrzehnten angesammelt zu haben, das Gut wirkte daher nicht gerade wie ein Ort, an dem sich viel veränderte. Dee umrundete die Scheune, vergewisserte sich, auch wirklich allein zu sein, und überprüfte dann, ob die Flügeltür verschlossen war. Sie ließ sich leicht öffnen, Dee hatte aber nicht den Mumm hineinzugehen. Im Inneren lauerten dunkle Schatten, ein paar Gerätschaften und erstaunlich trockene Luft, die mit jedem Atemzug in der Kehle kitzelte und brannte. Schnell machte sie die Tür wieder zu.
Auf der anderen Seite der Scheune, dem Teil, den sie von den Dünen aus nicht gesehen hatte, entdeckte sie eine kleine Grabstätte – ganz anders als der offizielle, eingezäunte Friedhof, auf dem ihre Mutter lag. Hier gab es nur ein paar Gedenksteine unterschiedlicher Größe und aus verschiedenartigem Material, die schon fast von Schilfrohr und Gras überwuchert waren. Neugierig ging Dee darauf zu.
Die vier Gräber waren mehr oder weniger im Halbkreis angeordnet, und sie schienen alle Männern oder Jungen zu gedenken. HIER LIEGT LYFORD GILLY, AUF EWIG MIT HEPHZIBAH IM BUND DER EHE VERBUNDEN , 1839, verkündete der erste in strengen Lettern auf unpoliertem Granit. SILAS GILLY, GELIEBTER SOHN, GELIEBTES KIND, NUN IST ER IM HIMMEL , stand auf dem zweiten, der kein Datum trug. Der dritte Stein war nur ein schlichtes, weißes Quadrat aus Marmor, die Schrift darauf war jedoch so verschnörkelt, dass Dee im tiefstehenden Sonnenlicht kaum etwas erkennen konnte. SIMMS MASON GILLY VERSTARB 1918 IN TAPFEREM KAMPF , entzifferte sie schließlich. HIER RUHEN SEINE GEBEINE. MÖGEN DIE VERWUNDETEN EWIGEN FRIEDEN FINDEN . Der letzte Grabstein – wieder aus Granit, aber poliert und dünner als der erste – war der neuste. HENRY SILAS GILLY , stand darauf. 1942–1950. ASCHE ZU ASCHE, STAUB ZU STAUB, AUF IMMER DEM SALZ GESCHENKT. Dee erschauderte. Auf diesem Grab lag ein kleines Häufchen von dem blutroten Salz, das sie zuvor gesehen hatte.
Auf einmal hörte sie in der Ferne einen Knall. Sie fuhr zusammen und blickte über die Schulter hinüber zum Wohnhaus. Joanna Gilly humpelte die Verandatreppe hinunter und sah gar nicht glücklich aus. Dee stand auf und eilte auf die Dünen zu, entdeckte dann aber, dass ein sandiger Pfad sich auf dem Grasland in eine ungewisse Ferne schlängelte. Sie hatte diesen Weg von oben nicht gesehen, vermutete aber, dass es derselbe war, der von der Stadt zur Kirche führte. Vermutlich verlief er auf der anderen Seite der Dünen parallel zu Drake’s Beach. Das hoffte sie zumindest, als sie sich durch das Schilf kämpfte und den Heimweg antrat, zurück zu ihrem Vater, dem Restaurant und den grauen Fenstern von Prospect, die ihr jetzt wie das kleinere Übel erschienen.
Am nächsten Morgen weckte sie noch vor Sonnenaufgang ein seltsames, eindringliches Geräusch. Es war ein Pochen oder Dröhnen, das sie im Halbschlaf nicht so recht einzuordnen wusste. Sie setzte sich in ihrem Bett unter dem Mansardenfenster auf und zog die Vorhänge gerade noch rechtzeitig zurück, um ein riesiges weißes Pferd vorbeidonnern zu sehen, auf dessen Rücken eine rothaarige Frau saß. Dee stieß einen leisen Schrei aus und wich von der Scheibe zurück, obwohl sie nicht einmal sagen konnte, warum eigentlich. Von unten war sie nämlich gar nicht zu sehen, selbst wenn Claire nach ihr Ausschau gehalten hätte. Und das hatte sie natürlich nicht, wie Dee auch wusste. Das Haar zu einem losen Zopf gebunden beugte sich Claire tief über den Nacken des Pferdes. Sie trug nichts weiter als Reithosen und eine dünne Bluse. Es herrschte schwacher Nebel, und Claire verschwand mit dem Pferd nur Sekunden nach ihrem Auftauchen wieder darin. Dann war die Straße erneut in Stille getaucht. Dee erschauderte und ließ den Vorhang sinken.
Als sie den Laden aufmachten, erzählte Dee ihrem Vater nichts von der Beobachtung, war dadurch aber so abgelenkt, dass sie zwei Tassen zerbrach, noch bevor sie die Tür aufgeschlossen hatten. Beim zweiten Mal fasste sie mit dem Daumen in eine Scherbe, und dicke Blutstropfen hinterließen Flecken auf ihrer Schürze. Ihre Farbe erinnerte sie an das seltsam rote Salz, das sie in Jos Marsch gesehen hatte, und sie wäre beinahe ohnmächtig geworden, doch ihr Vater machte dem Ganzen ein
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