Das Geheimnis der Salzschwestern
ich dachte«, murmelte sie und legte den verstümmelten Haken in den Angelkasten. »Wer mit Salz arbeitet, darf nicht so empfindlich sein.«
Whit legte Claire die Hand auf die Schulter. »Ach, jetzt lass sie schon in Ruhe, Jo. Sie ist eben sensibel, das ist alles.«
Jo blickte finster drein. Was wusste ein Bürschchen wie Whit Turner denn schon von ihrem Leben, dachte sie. Sensibilität konnte man leider nicht essen. Sie bezahlte keine Rechnungen und verhalf Claire auch nicht zu den schicken Kleidern, die sie immer haben wollte. Jos harte Arbeit sorgte dafür, und wenn Claire so sensibel war … na ja, dann war das ihr Problem. Jo machte einen neuen Haken an der Leine fest und warf diese wieder zurück ins Wasser.
»Komm schon, Jo.« Whit trat näher heran, und sie spürte seinen Atem im Nacken. »Jetzt sei doch nicht so. Du weißt, dass ich eine gute Partie für dich wäre.« Er legte ihr die Hand auf den Rücken und lehnte sich vor, so als wollte er sie wieder küssen, sie aber wandte sich im letzten Moment ab. Ihr Herz raste, ihr Mund war ganz trocken, und die Härchen auf ihrem Arm standen zu Berge.
»Nicht vor Claire«, murmelte sie, obwohl das natürlich nur ein Vorwand war.
Er stieß ein frustriertes Knurren aus und machte einen Schritt von ihr weg. »Ich muss das Boot wieder zurückbringen«, erklärte er. »Gleich steht ein Tennisspiel an, meine Mutter sucht im Club bestimmt schon nach mir. Mein Gott, ich würde alles geben, um den Sommer über nicht in diesem langweiligen Nest hocken zu müssen. Die Hälfte meiner Freunde ist in Europa.«
Claire winkte heftig mit einer Hand und saugte noch immer an dem kleinen Schnitt, Whit ignorierte sie aber. Jo ignorierte er ebenfalls und weigerte sich, auch nur ein weiteres Wort zu sagen, während er das kleine Boot wieder durch die Brandung hinausschob. Schließlich füllte der Wind die Segel, und die Jolle verschwand hinter der Landspitze. Jo machte sich aber trotzdem keine Gedanken. Sie hatten sich auch vorher schon gestritten und dann wieder versöhnt.
Die Woche darauf kam Whit jedoch nicht, und auch nicht eine weitere Woche später. Wenn sie ihn in der Kirche sah, wirkte er zerstreut und blickte nach vorn zu Pater Flynn. Danach stand er dann auf, half seiner Mutter aus der Bank und nickte den alten Damen der kleinen Gemeinde zu, weigerte sich aber weiterhin, zu Jo hinüberzusehen. Nach der Messe lief sie allein am Strand entlang und steckte mürrisch die Zehen ins Wasser. So muss es wohl sein , sagte sie sich selbst. Sie wurden erwachsen und gingen getrennte Wege. Das hatte ihnen jeder prophezeit, und jetzt war es endlich so weit. In Whits Leben taten sich neue Horizonte auf, während das ihre zuklappte wie eine Muschel.
In diesem Jahr gab es nicht viel Salz, also erschien Ida bald wieder auf der Bildfläche und wedelte mit Geld herum. Mama hätte trotzdem nie verkauft, auch wenn das hieß, dass sie den ganzen Winter nur von Brot und eingelegtem Gemüse leben würden.
»Du bist so ein Dummkopf, Sarah Gilly«, erklärte Ida draußen auf der Veranda vor dem schiefen Fliegengitter, während Claire und Jo geschlossen hinter Mama standen. »Für dich wird es nie ein besseres Leben geben, aber was ist mit deinen Mädchen? Wollen die hier nicht mal raus? Vielleicht nicht die da«, sie zeigte mit ihrem beringten Finger auf Jo, »aber die andere scheint doch Potential zu haben.« Sie deutete auf Claire, die angesichts dieser Worte mit stolzgeschwellter Brust dastand. »Überleg doch mal, was du ihr mit meinem Geld alles bieten könntest.«
In diesem Augenblick tat Claire etwas Schockierendes. Sie war erst elf, erblühte aber bereits auf eine Weise, die mit Kindheit nicht mehr viel zu tun hatte. Sie war eine Träumerin mit Schmollmund, und das Salz war ihr so zuwider, dass ihre helle Haut nach einem Tag draußen bei den Becken manchmal Ausschlag bekam, selbst wenn sie sich schützte und Handschuhe trug. »Vielleicht hat Ida ja recht«, warf Claire plötzlich ein. »Denk doch mal darüber nach. Ich könnte eines Tages aufs College gehen. Und Jo …« Sie verstummte. »Na ja, Jo könnte auch irgendetwas damit anfangen«, endete sie schließlich. »Warum nehmen wir Idas Geld denn nicht an?«
In diesem Moment wünschte Jo sich nichts mehr, als die Hand auszustrecken und ihre Schwester grün und blau zu schlagen, aber Mama war bei Claire immer viel nachgiebiger. Sie schob ihrer Jüngsten einen Finger unters Kinn und starrte ihr in die grünen Augen. »Genau da liegt
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