Das Geheimnis der Salzschwestern
mit einem Blick zu ihrer Mutter, dass die nichts mitbekommen hatte, und verbarg dann ihr Gesicht. Auf der einen Seite lockte sie der alte Reiz von Whits jungenhaftem Charme, ließ sie wünschen, sie wäre so ein kühner Draufgänger wie er. Andererseits hatte sich zwischen ihnen jedoch etwas verändert. Zumindest für sie. Nach dem ungeschickten Kuss in der Scheune war Whit monatelang fort gewesen, und Jo hatte Zeit gehabt, sich so einiges durch den Kopf gehen zu lassen. Sie wusste nun, dass Whit und sie niemals ein Paar werden würden, was auch immer geschah.
Whit war im Lauf des letzten Jahres ganz ordentlich gewachsen, seine Schultern waren jetzt breiter, und sein Haar noch dunkler. Es fiel ihm auf eine Art und Weise in die Augen, die die Mädchen in seiner Clique vermutlich unwiderstehlich fanden, dachte Jo. Tatsächlich wirkte er beinahe wie ein anderer Mensch, jetzt, wo er so ungewohnte Dimensionen angenommen hatte. Es war fast, als sei ein Betrüger in seine Rolle geschlüpft, der aus irgendeinem Grund all die Gesten und Zeichen ihrer Geheimsprache kannte. Jo sah dabei zu, wie er Ida aus der Bank begleitete und beim Abschiedsgruß mit beiden Pranken Pater Flynns dargebotene Hand umfasste, so als spielten sie ein Fingerspiel, das Whit unbedingt gewinnen wollte.
Eigentlich hätte sie es besser wissen müssen, trotzdem wartete Jo eine Stunde später auf Drake’s Beach. Der Wind fuhr ihr durchs Haar, und ihre Zehen gruben sich wie ungeduldige Schnecken in den Sand. Der Strand war so sturmgeplagt und voller Steine, dass es ziemlich gewagt war, dort barfuß zu laufen, Jo tat es aber dennoch. Wenn sie diesen Schmerz ertragen konnte, dachte sie, dann konnte sie so ziemlich alles schaffen. Wieder und wieder sah sie hinauf zu den Dünen, hinter denen die Straße lag, aber es kam niemand. Erleichtert wandte sie sich schließlich ab, um sich zurück auf den Weg in die Marsch zu machen, aber genau in diesem Augenblick hörte sie von der See her ein Pfeifen. Zwei Pfiffe, eine Pause und dann wieder zwei Pfiffe.
Sie drehte sich zum Wasser um und entdeckte, dass Whit beschlossen hatte, die Saison einzuläuten, indem er mit einer brandneuen Jolle die Landspitze umrundete. Er überwand problemlos die Brandung, kam mit Windesrauschen und flatternden Segeln an und schwang die Beine über die Reling.
Beim Anblick der Nussschale bekam Jo ganz feuchte Hände und musste schlucken. Obwohl sie in der Marsch zwischen all den Meerwasserbassins lebte, traute sie dem Ozean nicht. Das hatte mit Henrys Tod zu tun. Sie sah noch immer den aufgedunsenen Leichnam ihres Bruders vor sich, den ihre Eltern aus dem Bewässerungsbecken zogen. Er hatte die Arme weit ausgestreckt wie jemand, der einem anderen eine Warnung zuruft. Jo machte einen Schritt zurück in Richtung Dünen. Sie wollte nicht segeln gehen.
Whit bemerkte ihr Unbehagen offensichtlich nicht. Er sprang hinab in die Brandung und hielt das Boot ruhig. »Na, was meinst du?«, krähte er. »Das ist brandneu! In der Schule bin ich jetzt im Segelteam. Meine Mutter hat mir das Boot gekauft, weil meine Noten ganz ordentlich waren, aber sie weiß ja auch nicht, dass mein Mitbewohner, der olle Streber Peter Peckman, für meine Hausaufgaben Geld von mir kriegt.«
Der alte Whit, dachte Jo, hätte verstanden, dass das Segeln und dieses außergewöhnliche Treffen sie verunsicherten. Der Junge, der sein Blut mit ihrem vermischt hatte, der Salz auf ihre Lippen gerieben hatte – dieser Mensch hätte ihre Angst gespürt und den Kahn hier und jetzt auf den Strand gezogen. Whit hatte sich aber offenbar nicht nur äußerlich verändert.
»Spring rein!«, forderte er sie auf. Er hatte sich nach der Kirche umgezogen, und Jo bemerkte dadurch erst recht, was für schlanke und straffe Beine er bekommen hatte und wie breit seine Schultern geworden waren. Er ähnelte seinem Vater – hatte das gleiche edle Kinn, das dichte Haar und die römische Nase –, aber seine Augen waren unter den schweren Lidern so rauchgrau wie die von Ida. Und deshalb fiel es Jo auch so schwer zu ergründen, was er tatsächlich dachte. Ida hatte recht , fuhr es Jo durch den Kopf, wir gehören nicht zusammen, auch wenn wir aus dem gleichen Holz geschnitzt sind. »Jetzt komm schon, du Angsthase«, neckte Whit sie. »Lass mich hier nicht den ganzen Tag stehen. Lange warte ich nämlich nicht mehr auf dich, musst du wissen.«
Jo watete durch die Brandung.
»Schon besser«, meinte Whit und sprang nach ihr ins Boot, griff auf der
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