Das Geheimnis Der Schönen Toten
geschworen, ihr dieses ganze Gestrüpp vorzuenthalten.
Und jetzt hast du es ihr erzählt?«
»Ich nicht«, entgegnete Cadfael. »Aber sie weiß Bescheid, ja. Sie hat es von Frau zu Frau gehört. Und sie ist jetzt zu der Wohnung des Abts unterwegs, um das, was sie zu sagen hat, sowohl der geistlichen wie der weltlichen Gewalt gegenüber zu erklären, damit sie es nur einmal sagen muß.«
»In Gottes Namen«, verlangte Hugh mit offenem Mund zu wissen, »wie ist sie bloß auf die Idee gekommen, diese Reise zu unternehmen? Als ich vor nicht allzu langer Zeit bei ihr war, erschöpfte sie jede Handbewegung. Sie war seit Monaten nicht mehr aus dem Haus gewesen.«
»Damals hatte sie keinen zwingenden Grund«, sagte Cadfael. »Jetzt hat sie einen. Sie hatte keinen Grund, gegen die Fürsorge und die Besorgtheit anzukämpfen, die sie ihr aufdrängten. Jetzt hat sie einen. Ihr Wille zeigt keinerlei Anzeichen von Schwäche. Sie haben sie diese paar Meilen auf einer Tragbahre hergebracht, was sie einiges gekostet hat, ich weiß, aber sie wollte es nicht anders haben, und mir würde es jedenfalls nicht einfallen, es ihr zu verweigern.«
»Mit einer solchen Anstrengung«, sagte Hugh, »kann sie sich leicht den Tod geholt haben.«
»Und wäre es ein so schlechtes Ende, wenn es so käme?«
Hugh warf ihm einen langen, nachdenklichen Blick zu und vermochte es nicht zu leugnen.
»Was hat sie dir denn gesagt, um ein solches Wagnis zu rechtfertigen?«
»Bis jetzt hat sie nur erklärt, die Toten sollten ihre Sünden selbst tragen und sie den Lebenden nicht als Erbschaft hinterlassen.«
»Das ist mehr, als wir aus dem Jungen herausbekommen haben«, bemerkte Hugh. »Nun, soll er ruhig noch eine Weile dasitzen und nachdenken. Er mußte den Ruf seines Vaters retten, und sie will ihren Sohn retten. Während unterdessen Söhne und Gesinde und alle anderen sehr wohlwollend und eifrig damit beschäftigt gewesen sind, sie zu retten. Wenn sie jetzt die Musik macht, bekommen wir vielleicht ein anderes Lied zu hören. Warte einen Moment, Cadfael, und entschuldige mich bei Aline, während ich mein Pferd sattele.«
Sie hatten die Brücke erreicht und ritten so langsam, daß es den Anschein hatte, als wollten sie ihre Ankunft bei dieser Konferenz noch etwas hinauszögern, um noch einmal über alles nachzudenken, als Hugh sagte: »Und sie will nicht, daß Sulien dabei ist und alles anhört?«
»Nein. Sie hat ganz entschieden erklärt: Nicht mein Sohn! Was zwischen ihnen zu klären sei, sagte sie, habe Zeit, bis die Zeit reif sei. Bei Eudo weiß sie, daß sie ihn jederzeit in der Hand hat und ihm auftischen kann, was sie will, solange wir nichts sagen. Und was hat es für einen Sinn, die Verbrechen eines toten Mannes an die große Glocke zu hängen? Er kann nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden, und die Lebenden sollten es nicht.«
»Aber Sulien kann sie nicht täuschen. Er hat das Begräbnis mitangesehen. Er weiß Bescheid. Was kann sie anderes tun, als ihm die Wahrheit zu sagen? Die ganze Wahrheit, denn die halbe kennt er schon.«
Erst jetzt kam es Cadfael in den Sinn, sich zu fragen, ob sie oder auch nur Sulien die Hälfte davon kannten. Sie waren ihrer Sache sehr sicher, weil sie glaubten, jede andere Möglichkeit ausgeschlossen zu haben, als wäre das, was sie übriggelassen hatten, unweigerlich die Wahrheit. Doch jetzt meldete sich der Zweifel, der bislang abseits gewartet hatte, urplötzlich als eine Welt unbedachter Möglichkeiten, und noch soviel Nachdenken konnte nicht alle davon ausschließen. Wieviel von dem, was selbst Sulien wußte, war gar nicht Wissen, sondern Vermutung? Wieviel von dem, was er gesehen zu haben glaubte, war nicht Augenschein, sondern Illusion?
Auf dem Hof vor dem Stall der Abtei saßen sie ab und zeigten sich an der Tür des Abts.
Es war schon hoher Vormittag, als sie sich schließlich im Empfangszimmer des Abts versammelten. Hugh hatte am Torhaus auf Donata gewartet, um sicherzustellen, daß man sie sofort über den großen Hof direkt zur Tür von Radulfus'
Wohnung trug. Seine Besorgtheit erinnerte sie vielleicht an Eudo, denn als er sie zwischen den herbstlich kahlen Beeten im Garten des Abts geleitete, ließ sie sich das mit einem feinen, schmallippigen, aber nachsichtigen Lächeln gefallen und ertrug die überbesorgten Aufmerksamkeiten von Jugend und Gesundheit mit der mühsam erlernten Geduld, die Alter und Krankheit sie gelehrt hatten. Sie ließ es zu, daß er sie am Arm durch den Vorraum führte,
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