Das Geheimnis Der Schönen Toten
und wurde nur an einigen Stellen gekräuselt, wo die Strömung schneller war. Die Vögel waren jedoch schon munter und sangen eifrig und laut; sie waren Herren ihrer eigenen kleinen Reiche und zwitscherten ihre Rechte und Privilegien herausfordernd zur Abwehr von Eindringlingen hinaus.
Cadfael verließ die Landstraße bei Saint Giles und ritt auf dem sanft ansteigenden, hochliegenden Pfad, der teils Wiese, teils Heide mit vereinzelten Bäumen war und den zur Fähre hin ansteigenden Hang überquerte. All der Lärm und die Geschäftigkeit des erwachenden Foregate-Viertels, das Ächzen und Rattern der Karren, das Gebell der Hunde und das Gewirr vieler Stimmen, verstummten allmählich hinter ihm, und die Brise, die zwischen den Häusern kaum wahrnehmbar gewesen war, hatte sich zu einem spürbaren Wind aufgefrischt. Cadfael überquerte den Hügelkamm mit den ihn säumenden Bäumen und sah auf die geschwungene Kurve des Flusses und das auf der anderen Seite scharf ansteigende Ufer und die dahinterliegenden Wiesen hinunter. Und dann zog er plötzlich scharf die Zügel an und starrte erstaunt und leicht konsterniert auf das Floß des Fährmanns hinunter, das in der Flußmitte angelangt war.
Die Entfernung war nicht so groß, daß er nicht klar hätte sehen können, welche Fracht es an das diesseitige Ufer brachte.
Eine schmale Tragbahre auf vier kurzen, stämmigen Beinen stand genau in der Mitte des Floßes, um während der Überfahrt möglichst wenig erschüttert zu werden. Eine leinene Zeltbahn schützte das Kopfende vor Wind und Wetter, und auf einer Seite stand ein kräftig gebauter Reitknecht, auf der anderen, in einem braunen Umhang und mit entblößtem Kopf, eine junge Frau, deren rotbraunes Haar von der Brise zersaust wurde. Am hinteren Ende des Floßes, wo der Fährmann seine Ladung mit einer Schifferstange durch die friedlichen Wasser stakte, hielt der zweite Träger ein geschecktes kleines Pferd am Zaum, das mit unerschütterlichem Gleichmut hinterherschwamm. Tatsächlich brauchte der Schecke nur in der Flußmitte zu schwimmen, denn der Wasserstand war hier noch recht niedrig. Die Träger hätten ebensogut Knechte aus irgendeinem Haus der Gegend sein können, doch das Mädchen dort war unverkennbar. Und wen würde man wohl bei erträglichem Wetter auf Tragbahren über ein paar Meilen hinweg tragen, wenn nicht die Kranken, Alten, Versehrten oder Toten?
So früh es auch war, er hatte seinen Ritt zu spät angetreten. Frau Donata hatte ihren Wintergarten verlassen, ihre Halle, hatte sogar, und Gott allein mochte wissen aus welchen Gründen, ihren fürsorglichen und besorgten Sohn verlassen und erschien jetzt, um selbst herauszufinden, was Abt und Sheriff in Shrewsbury mit ihrem zweiten Sohn Sulien vorhatten.
Cadfael trieb sein Maultier mit einem behutsamen Schenkeldruck durch die Bäume und ritt langsam den langen Abhang des Pfads hinunter, um sie zu begrüßen, als der Fährmann sein Floß mit geübter Hand an das sandige Ufer gleiten ließ.
Pernel überließ es den Trägern, das Pferd auf das Ufer zu führen und die Tragbahre sicher an Land zu tragen, und rannte Cadfael entgegen, als er absaß. Die frische Luft, ihre Eile und die unvermutete Aufregung dieser noch viel unvermuteteren Expedition hatten ihre Wangen gerötet.
Sie ergriff ihn besorgt, aber resolut am Ärmel und sah ihm ernst ins Gesicht.
»Sie hat es befohlen! Sie weiß, was sie tut! Warum konnten sie es nie verstehen? Habt Ihr gewußt, daß man ihr nie etwas von dieser ganzen Angelegenheit erzählt hat? Der ganze Haushalt. .. Eudo hätte sie auch weiterhin im dunkeln tappen lassen, behütet und in Daunen gewickelt. Sie alle haben nur getan, was er wollte. Alles aus Zärtlichkeit, aber was soll sie mit Zärtlichkeit anfangen? Cadfael, außer Euch und mir hat sich niemand frei gefühlt, ihr die Wahrheit zu sagen.«
»Ich habe mich nicht frei gefühlt«, entgegnete Cadfael kurz. »Ich habe dem Jungen versprochen, sein Schweigen zu respektieren, so wie sie es alle getan haben.«
»Respektieren!« hauchte Pernel verwundert. »Und wo ist der Respekt vor ihr geblieben? Ich habe sie erst gestern kennengelernt, und es kommt mir vor, als würde ich sie besser kennen als all die, die sich jeden Tag von morgens bis abends mit ihr unter einem Dach bewegen. Ihr habt sie doch gesehen! Nichts als eine Handvoll zarter Knochen mit Schmerz als Fleisch und Mut als Haut. Wie kann es ein Mann nur wagen, sie anzusehen und dann von einer Sache zu sagen, wie
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