Das Geheimnis Der Schönen Toten
ablenken könnte, wenn er mehr als je zuvor einen klaren Kopf braucht. Ich möchte ihn nicht dauernd an das Schicksal von Ramsey erinnern, auch nicht, daß irgendwelches Gerede über diese Sache auf dem Töpferacker ihn aufregt.
Wir wollen ihm die Stille und Einsamkeit gönnen, zunächst über seine Erlösung nachzudenken. Ich habe Bruder Vitalis angewiesen, ihn sofort vorzulassen, wenn er zu einem Entschluß gekommen und bereit ist, mich wieder zu sprechen.
Doch in der Zwischenzeit solltest du ihn am besten im Kräutergarten beschäftigen, getrennt von den Brüdern, es sei denn beim Gottesdienst und bei den Gebeten. In Speisewie Schlafsaal wird Paul ihn im Auge behalten, und während der Arbeitsstunden wird er bei dir am besten aufgehoben sein, denn du weißt um seine Situation.«
»Mir ist der Gedanke gekommen«, sagte Cadfael und rieb sich nachdenklich die Stirn, »daß er um Rualds Anwesenheit bei uns weiß. Dieser junge Bursche hat seinen Entschluß, ins Kloster einzutreten, nämlich ein paar Monate nach Rualds Eintritt gefaßt. Ruald war bis dahin Blounts Pächter auf Lebenszeit gewesen und lebte in der Nähe des Herrenhauses. Hugh hat mir erzählt, daß der junge Sulien schon als Kind in dieser Werkstatt wie zu Hause war und von den beiden wie ein eigenes Kind behandelt wurde, da sie selber kinderlos geblieben waren. Hat er über Ruald gesprochen oder darum gebeten, ihn zu sehen? Was ist, wenn er ihn aufsucht?«
»Wenn er es tut, ist es nicht zu ändern. Er hat das Recht dazu, und ich habe nicht die Absicht, ihn lange Zeit von den anderen getrennt zu halten. Ich glaube aber, daß ihm im Moment nur Ramsey und sein eigener Kummer im Kopf herumgehen, so daß er für andere Dinge kaum einen Gedanken haben dürfte. Er hat noch nicht seine endgültigen Gelübde abgelegt«, sagte Radulfus, der mit resignierter Besorgnis über die komplizierten Qualen junger Menschen nachdachte. »Wir können nur eins tun: ihm eine Zeitlang Schutz und Ruhe zu bieten. Sein Wille und sein Handeln gehören immer noch ihm. Und was diesen Schatten betrifft, der über Ruald schwebt - was für einen Sinn hätte es, die Bedrohung zu ignorieren? -, wenn die Beziehungen dieser beiden so gewesen sind, wie Hugh es behauptet, wird das für das Gemüt des jungen Mannes noch mehr Kummer und Zerrissenheit bedeuten. Das sollten wir ihm für einen Tag oder zwei ersparen. Doch wenn es passiert, passiert es eben. Er ist ein erwachsener Mann, und wir können ihm seine Bürde nicht abnehmen. Er muß sie auch tragen wie ein Mann.«
Am Morgen des zweiten Tages nach seiner Ankunft begegnete Sulien Bruder Ruald von Angesicht zu Angesicht und aus nächster Nähe. Außer Cadfael war niemand anwesend.
Sulien hatte Ruald bei jedem Gottesdienst in der Kirche unter all den anderen Brüdern gesehen, und ihre Blicke waren sich einoder zweimal begegnet. Er hatte dem anderen in dem düsteren Kirchenschiff zugelächelt, jedoch keine weitere Antwort erhalten als einen kurzen, flüchtigen Blick von geistesabwesender Liebenswürdigkeit, als betrachte ihn der ältere Mann durch einen Schleier des Staunens und der Verzückung, in der für Gedanken an frühere Gemeinsamkeiten kein Raum war. Jetzt tauchten sie im selben Augenblick auf dem großen Hof auf und gingen beide auf das Südtor des Klosters zu, Sulien vom Garten her, wobei Cadfael ein oder zwei Schritte hinter ihm herschlenderte, während Ruald aus der Richtung der Krankenzimmer kam.
Sulien hatte nun, da seine wunden Füße verheilt waren, den kraftvollen, elastischen Gang eines jungen Mannes und umrundete die Biegung der hohen Buchsbaumhecke so stürmisch, daß die beiden Männer fast zusammenstießen.
Ihre Ärmel berührten sich, und beide hielten abrupt inne und traten einen Schritt zurück, um sich hastig zu entschuldigen. Hier im Freien, unter einem hohen, weiten Himmel, an dem noch immer ein paar primelgelbe Spuren eines strahlenden Sonnenaufgangs zu sehen waren, begegneten sie einander als zwei bescheidene Sterbliche, ohne jeden Schleier der Verklärung zwischen sich.
»Sulien!« Ruald breitete mit einem warmherzigen, entzückten Lächeln die Arme aus und umarmte den jungen Mann kurz Wange an Wange. »Ich habe dich am ersten Tag in der Kirche gesehen. Wie froh ich bin, dich hier und in Sicherheit zu sehen!«
Sulien stand einen Augenblick stumm da und betrachtete den älteren Mann mit ernstem Gesicht von Kopf bis Fuß.
Die Heiterkeit von Rualds dünnem Gesicht und die sonderbare Aura eines Mannes, der
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