Das Geheimnis Der Schönen Toten
liebenswürdig, gewiß. Doch inzwischen wußte jeder im Kloster, wer Sulien war, und alle brachten seine Rückkehr unwillkürlich mit der Angelegenheit der auf dem Töpferacker aufgefundenen toten Frau in Verbindung sowie mit dem über Bruder Rualds Kopf schwebenden und sich stetig verdüsternden Schatten. Sie fragten sich, ob Sulien wohl mit allen Einzelheiten dieser Tragödie vertraut gemacht worden war und welche Auswirkung es auf ihn haben würde, wenn er es wußte. Was mußte er von dem früheren Pächter seiner Familie denken? War das der Grund, weshalb der Abt es sich hatte angelegen sein lassen, für ihn um Friede und Ruhe zu bitten und darauf zu achten, daß er seine tägliche Arbeit ohne allzuviel Gesellschaft verrichtete? Und was würde man über das Verhalten von Sulien und Ruald sagen, was würde daran auffallen, wenn sie sich begegneten?
Und inzwischen wußten alle, daß sie sich begegnet waren. Alle hatten sie Seite an Seite zur Messe die Kirche betreten sehen, in einer stillen Unterhaltung begriffen, und beobachtet, wie sie getrennt zu ihren Plätzen gingen, ohne daß bei einem von ihnen eine auffallende Änderung des Verhaltens zu bemerken gewesen wäre. Hinterher gingen alle beide wieder zu ihren jeweiligen Arbeiten, ruhigen Schritts und mit gleichmütigen Gesichtern. Bruder Jerome hatte alles aufmerksam beobachtet und war genauso klug wie zuvor. Das bedrückte ihn. Er war stolz darauf, alles zu wissen, was in und um die Abtei von Saint Peter und Saint Paul vorging, und sein Ruf würde leiden, wenn er es gerade in diesem Fall bei seiner Unwissenheit beließ. Mehr noch, sein Ansehen bei Prior Robert würde vielleicht nicht weniger darunter leiden. Roberts Würde verbot es ihm, seine eigene aristokratische Nase in jede dunkle Ecke zu stecken, doch er erwartete gleichwohl, genau darüber informiert zu werden, was dort vorging. Seine silbernen Augenbrauen würden vielleicht hochmütig hochgezogen werden und unangenehme Folgen andeuten, wenn er herausfand, daß seine vertrauenswürdige Quelle sich letztlich doch nicht als unfehlbar erwies.
Als sich Bruder Cadfael also am selben Nachmittag mit einem vollen Ranzen auf den Weg zum Hospital von Saint Giles machte, um dort einen neuen Insassen zu besuchen und den Medizinschrank aufzufüllen, überließ er den Kräutergarten seinen beiden Gehilfen, von denen Bruder Winfrid dabei zu sehen war, wie er das inzwischen geplünderte Gemüsebeet umgrub und für den Winter fertig machte, während Bruder Jerome die Gelegenheit beim Schöpf ergriff und aus eigenem Antrieb einen Besuch machte.
Er ging jedoch nicht ohne einen Auftrag. Bruder Petrus wollte Zwiebeln für die Tafel des Abts, die vor kurzem ausgegraben worden waren und in Cadfaels Lagerschuppen in Schalen trockneten. Normalerweise hätte Jerome diese Aufgabe einem anderen zugewiesen, doch an diesem Tag ging er selbst.
In der Werkstatt im Kräutergarten war der junge Sulien eifrig dabei, Bohnen zu sortieren, die für die nächste Frühjahrsaussaat getrocknet worden waren. Er schied die aus, die nicht einwandfrei oder verdächtig aussahen, und sammelte die besten in einem Tonkrug, der mit einiger Sicherheit von Bruder Ruald in seinem früheren Leben gefertigt worden war. Jerome musterte Sulien vorsichtig von der Türöffnung her, bevor er eintrat und ihn bei seiner Arbeit störte. Der Anblick bestärkte ihn nur in seinem Verdacht, daß hier Dinge vorgingen, über die er, Jerome, nur unzureichend informiert war. Zum einen wies Suliens Scheitel noch immer den neuen Bewuchs von hellbraunen Locken auf, die mit jedem Tag üppiger wurden, und bot insgesamt ein so unschickliches Bild, daß Jeromes Gefühl für äußeren Anstand zutiefst verletzt war. Warum hat er sich inzwischen nicht den Scheitel rasiert und sich ein geziemendes Aussehen verschafft wie alle anderen Brüder? Gleichwohl ging er mit allergrößter Heiterkeit an seine einfache Aufgabe heran und arbeitete mit fester Hand, anscheinend recht unerschüttert durch das, was er inzwischen von Ruald selbst erfahren haben mußte. Jerome konnte sich nicht vorstellen, daß sich die beiden von dem großen Hof vor der Messe in die Kirche begeben hatten, ohne ein Wort über die ermordete Frau zu wechseln, die man auf dem Feld gefunden hatte, das einst dem Vater des jungen Mannes gehört hatte und von Ruald gepachtet worden war. Dieser Vorfall war das Hauptthema von Klatsch, Skandal und Spekulationen, wie sollte es anders sein? Und dieser junge Mann und seine
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