Das Geheimnis Der Schönen Toten
aber der streng geregelte Tagesablauf, der dazugehörte, ließ sich nicht so leicht abstreifen. Er entdeckte, daß er rechtzeitig zur Frühmette und zu den Laudes um Mitternacht aufwachte und auf das Läuten der Glocke wartete, und ihn erschütterten und erschreckten die Stille und die Einsamkeit, da er noch gewohnt war, die leisen Geräusche vieler schlafender Brüder zu hören, die sich umdrehten und leise Seufzer vernehmen ließen, das sanfte Gemurmel von Stimmen, die sich bemühten, die Tiefschläfer zu wecken, und ihm fehlte das Glühen der kleinen Lampe am Absatz der Treppe, die sie in der Dunkelheit sicher in die Kirche geleitete. Selbst die Bewegungsfreiheit seiner Kleidung verursachte ihm noch Unbehagen, nachdem er ein Jahr lang das Gewand mit dem Rock getragen hatte. Er hatte ein Leben abgelegt, ohne in der Lage zu sein, das alte dort wiederaufzunehmen, wo er es beendet hatte, und der Neuanfang war unerwartet mühsam und schmerzlich. Überdies hatte sich das Leben auf Longner seit seinem Aufbruch nach Ramsey verändert.
Sein Bruder war mit einer jungen Frau verheiratet, hatte sich in seiner Herrschaft eingerichtet und war glücklich über die Aussicht auf einen Erben, denn Jehane war schwanger. Die Ländereien von Longner waren ein sehr ansehnlicher Besitz, aber nicht groß genug, um zwei Familien zu ernähren, selbst wenn man sich von einer solchen Aufteilung je etwas Gutes erwartet hätte, und ein jüngerer Sohn würde sich ein eigenes Leben aufbauen müssen, so wie seit jeher das Los der jüngeren Söhne gewesen war. Das Klosterleben hatte er probiert und aufgegeben. Seine Familie ertrug ihn mit Toleranz und Geduld, bis er seinen Weg finden würde. Eudo war der offenste und liebenswürdigste junge Mann, den man sich nur denken konnte, und seinem Bruder sehr zugetan. Sulien durfte sich all die Zeit nehmen, die er brauchte, und bis er sich entschieden hatte, war Longner sein Zuhause und freute sich, ihn wieder da zu haben.
Jedoch konnte niemand recht sicher sein, daß Sulien sich freute. Er füllte seine Tage mit jeder Arbeit, die sich anbot, in den Ställen und bei den Kühen, er arbeitete mit Jagdfalken und Hunden, half bei den Schafen und beim Vieh auf den Feldern aus, fuhr Brennholz und Bretter für schadhafte Zäune heran, zeigte sich bereitwillig und eifrig, alles zu tun, was nötig war, als hätte er soviel aufgestaute Energie in sich, daß er sie um jeden Preis aus seinem Körper herauspressen oder daran erkranken mußte.
Im Haus war er ein stiller Gesellschafter, aber das kannte seine Familie schon von ihm. Seiner Mutter gegenüber war er sanft und aufmerksam und ertrug mit stoischer Ruhe ganze Stunden ihrer gepeinigten Gegenwart, der Eudo nach Möglichkeit zu entgehen suchte. Die stählerne Selbstbeherrschung, mit der sie jedes Anzeichen von Schmerz unterdrückte, war zwar bewundernswert, aber fast noch schwerer zu ertragen als offen gezeigte Qual. Sulien verwunderte sich darüber und litt mit ihr, da er sonst nichts für sie tun konnte. Und sie war gütig und würdevoll, doch es war unmöglich zu sagen, ob sie sich über seine Gesellschaft freute oder ob diese ihre Bürde noch schwerer erträglich machte. Er hatte immer angenommen, daß Eudo ihr Lieblingssohn war und den Löwenanteil ihrer Liebe erhielt. Das war die gewohnte Ordnung der Dinge, und Sulien hatte nichts daran auszusetzen.
Seine Zurückgezogenheit und Wortkargheit wurden von Eudo und Jehane kaum bemerkt. Sie erwarteten ein Kind, sie waren glücklich, sie fanden das Leben erfüllt und angenehm und hielten es für selbstverständlich, daß ein Jüngling, der ein Jahr seines Lebens irrtümlich an eine Berufung verschwendet hatte, die er gerade noch rechtzeitig als Irrweg erkannt hatte, diese ersten Wochen seiner Freiheit damit zubrachte, angestrengt über seine Zukunft nachzudenken. Folglich überließen sie ihn seinen Grübeleien, versorgten ihn mit der harten Arbeit, die er zu brauchen schien, und warteten mit selbstverständlicher Zuneigung darauf, daß er irgendwann, wenn er es für richtig hielt, sozusagen wieder auftauchte.
Mitte November ritt er eines Tages mit Befehlen für Eudos Viehhirten auf den abgelegenen Feldern der Longner-Ländereien nach Osten am Fluß Tern entlang, fast bis nach Upton, und als er seinen Auftrag erledigt hatte, ritt er zurück, doch dann riß er das Pferd nochmals herum und ritt sehr langsam weiter. Er ließ das Dorf Upton linker Hand liegen, ohne recht zu wissen, was er eigentlich wollte. Er
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