Das Geheimnis der Schwestern
etwa drei Meter von mir entfernt lag. Ich konnte sie atmen hören, aber sie weder berühren noch küssen oder auch nur mit ihr reden.
Am Samstag standen wir alle früh auf und frühstückten in der Lodge, was echt cool war. Es gibt dort einen RIESIGEN Swimmingpool mit Wasser aus den heißen Quellen, also hatte er etwa 4 0 ° oder so. Man kann im heißen Wasser treiben und sich dann in einen anderen Swimmingpool mit normalem Wasser stürzen, das sich eiskalt anfühlt. Tante Winona und Mark waren so lange in den heißen Quellen, dass ich dachte, sie würden schmelzen. Als sie herauskamen, versuchten sie ständig, sich heimlich anzufassen – als wüssten Cissy und ich nicht genau, was los ist. Sie kamen rüber zum kalten Pool und riefen uns.
Jedenfalls ist Cissy einfach ein GENIE . Denn sie schwamm direkt zu ihnen und meinte, sie wollte eine Wandertour zu den Wasserfällen unternehmen.
Ich schwamm zu ihr und jammerte, das sei zu weit weg, mindestens zehn Meilen, obwohl ich wusste, dass das nicht stimmte.
Mark sagte da: »Ach, Noah, geh doch mit Cissy zu den Wasserfällen«, und Cissy stöhnte, aber Tante Winona (die jedes Problem lösen muss) meinte: »Das ist doch eine großartige Idee, Noah. Wenn ihr zusammen geht, ist es sicherer.«
Also konnten Cissy und ich den ganzen Tag Händchen halten und bequem zu den Wasserfällen hochwandern. Die Bäume um uns herum waren gigantisch. Alles war überdimensional: die Felsen, die Pflanzen, die Bäume. Obwohl es ein heißer Augusttag war, gab es auf dem Wanderweg so gut wie kein Sonnenlicht. Weil Cissy kalt wurde, zog ich mein Shirt aus und gab es ihr. Ich fror auch, aber es war mir egal.
Wir merkten schon vorher, dass wir uns den Wasserfällen näherten, denn es war so laut, als würde ein Zug durch die Bäume donnern, der alles erzittern ließ. Wir gingen über eine ziemlich wacklige alte Brücke und wanderten so lange weiter, bis wir die Fälle sahen.
»Echt magisch«, sagte Cissy und nahm wieder meine Hand. Ich küsste sie echt lange, und das war das Coolste überhaupt. Der Boden zitterte, und überall war Sprühnebel, und man konnte sein eigenes Wort nicht verstehen, so laut war es. Aber als wir aufhörten, uns zu küssen, sah ich, dass die Sonne uns beschien – nur uns –, sonst nichts.
Ohne lange nachzudenken, sagte ich: »Ich liebe dich«, aber da fing sie an zu weinen.
»Tut mir leid«, sagte ich und wollte von ihr abrücken, aber sie ließ mich nicht los.
Sie sagte: »Nein, du Idiot, ich weine, weil ich dich auch liebe.«
Sie meint, es ist Schicksal, dass wir uns begegnet sind, und vielleicht hat sie recht. Denn wenn wir uns nicht an den Wasserfällen geküsst hätten, wenn wir uns nicht gesagt hätten, dass wir uns lieben, oder wenn die Sonne nicht direkt auf uns geschienen hätte, vielleicht hätte ich sie dann nicht bei der Hand genommen und in den Schatten einer riesigen Zeder gezogen, und dann hätte ich es vielleicht auch nicht gesehen.
Aber da war es und wartete auf mich. In die zerfurchte Baumrinde war ein perfekt geformtes Herz geschnitzt. Und in dem Herzen standen zwei Initialen und ein Datum.
D. R. liebt V. G. R. 21. 8. 92
Heute war der 20 .
Ich setzte mich so schnell auf, dass Cissy fast zur Seite fiel.
»Was ist denn?«, fragte sie.
Ich wollte es ihr sagen, wirklich, aber ich konnte nicht sprechen, nicht mal denken. Mein ganzes Leben hatte ich meinen Alten immer nur als Mörder gesehen. Fast als Bestie.
Aber plötzlich sah ich ihn als Mann, der mit seiner Frau hierhergegangen war, genau an die Stelle, die ich mir für mein Mädchen ausgesucht hatte. Und da bekam ich es mit der Angst.
Was, wenn er gar keine Bestie war? Was, wenn er nur ein Mann war, der eines Tages erschreckt wurde und eine Dummheit machte?
Zum ersten Mal erkannte ich, dass die ganzen Klatschmäuler vielleicht recht hatten, was mich betraf. Vielleicht war ich genau wie mein Vater. Und er war genau wie ich.
»Sieh mal«, sagte Cissy, als sie das Herz entdeckte, »ist das nicht romantisch? Ich frage mich, wer die beiden waren.«
Ich holte mein Handy heraus und machte ein Foto von dem Herzen. Ich weiß nicht, welche Erklärung ich Cissy lieferte. Von da an war ich völlig neben der Spur – ich weiß nicht mal, wie ich es beschreiben soll. Ich saß am Feuer, total durcheinander, und wartete nur darauf, nach Hause zu kommen und meine Mom endlich zu fragen, wie zum Teufel Dallas Raintree gewesen war.
Der schlimmste Tag des Jahres war für Vivi Ann der 21. August.
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