Das Geheimnis der Schwestern
Manchmal sah sie ihn Wochen vorher auf sich zurasen, wie einen alten Truck mit schlechten Bremsen, und manchmal wurde sie in einer völlig normalen Arbeitswoche davon überrascht. Doch das Resultat war immer das gleiche: tiefste, dunkelgraue Depression. Vor Jahren war der Schmerz an diesem Tag noch fast unerträglich gewesen, doch die Zeit hatte ihm etwas von seiner Schärfe genommen. Jetzt war er auszuhalten; diesen Fortschritt konnte sie verzeichnen. Sie hoffte, es noch zu erleben, dass dieser Tag so normal wie jeder andere wurde.
Sie stand spät auf, fütterte die Pferde und Bullen und ging dann zu ihrem Vater, um einen Kaffee zu trinken. Sie besprachen kurz, was getan werden musste, und gingen dann wieder auseinander: er nach Seabeck, um sich eine gebrauchte Mähmaschine anzusehen; sie, um ihre Pflichten zu erledigen. Den Rest des Tages arbeitete sie unablässig, darauf bedacht, immer beschäftigt zu bleiben, um müde zu werden. Als die Sonne endlich unterging, setzte sie sich in ihren Schaukelstuhl auf der Veranda und wagte es, die Augen zu schließen.
Sekunden später war sie schon dort, wo sie sein wollte: tief im Reich ihrer Erinnerungen. In einer Ecke ihres Hirns flüsterte ihr kühler, rationaler Verstand, dass sie eigentlich kein Bedürfnis verspüren sollte, dort zu sein, aber das konnte sie leicht überhören. An diesem einen Tag konnte sie einfach nicht anders.
»Vivi Ann?«, sagte Winona und kam auf sie zu. »Alles in Ordnung?«
»Oh, tut mir leid, ich bin wohl eingedöst«, antwortete Vivi Ann. Sie stand langsam auf, weil ihr leicht schwindelig war. Erinnerungen waren wie alkoholische Getränke, es gefährdete das Gleichgewicht, wenn man zu schnell zu viel davon bekam. »Wo ist Noah?«
»Ich bin hier.« Noah stieg aus dem glänzend schwarzen SUV .
Mark erhob sich vom Fahrersitz. »Hey, Vivi Ann«, sagte er und umfasste Winonas Hand. »Danke, dass wir Noah mitnehmen durften. Er war ein toller Begleiter.«
»Danke, dass ihr ihn mitgenommen habt. Das war sehr großzügig von euch.«
Mark lächelte. »Wir wollten noch in die Stadt, um Fisch zu essen und danach ein Eis.«
Ich war noch spät in der Eisdiele, zum Arbeiten, als ich Dallas aus der Gasse kommen sah.
»Willst du mitkommen?«, fragte Winona.
Vivi Ann zwang sich, strahlend zu lächeln. »Nein, danke. Mir geht’s nicht so gut«, fügte sie dann hinzu.
»Ich glaube, ich bleibe bei Mom«, sagte Noah. »Aber vielen Dank für den Ausflug.« Er ging zurück zum Wagen und sagte etwas zu dem Mädchen auf dem Rücksitz.
Winona ließ Marks Hand los und trat zu Vivi Ann. »Ist wirklich alles in Ordnung?«
An manchen Tagen schätzte es Vivi Ann sehr, dass Schwestern sich so genau kannten. Aber an manchen Tagen – und heute war so einer – machte es sie wütend. Das einzig Gute war, dass Winona sich niemals die Mühe machen würde, darüber nachzudenken, welches Datum sie heute hatten. »Mir geht es gut. Ehrlich. Los, amüsiert euch.«
Sie sah zu, wie ihre Schwester zu dem teuren schwarzen Wagen zurückging und einstieg. Als sie davonfuhren, kam Noah über den Rasen zur Veranda. »Heute ist der einundzwanzigste August«, sagte er. »Hat dieses Datum irgendeine Bedeutung für dich?«
Und Vivi Anns Welt wurde aus den Angeln gehoben.
»W… was meinst du damit?«
»Nichts«, erwiderte er scharf.
Sekunden zuvor war sein Gesicht noch ausdruckslos und hart gewesen, aber jetzt sah sie, dass er nervös war.
»Wir waren oben am Sol Duc«, begann er und trat näher zu ihr. »Ich und Cissy –«
»Cissy und ich.«
Er verdrehte die Augen und sprach weiter. »Wir sind den langen Weg zum Wasserfall hinaufgewandert und haben uns dann eine Weile an einen Baum gesetzt, um ihn anzusehen. Da hab ich ein Herz entdeckt, das in die Baumrinde geschnitzt war.«
»Ein Herz«, wiederholte sie, wagte aber nicht, ihrem Sohn in die Augen zu sehen.
»Darin stand: D. R. liebt V. G. R., 21 . August 1992 . «
Vivi Ann spürte, wie sie innerlich kapitulierte. Sie war es so leid, den Fragen ihres Sohnes auszuweichen. Und er hatte wahrlich jedes Recht, Fragen zu stellen. Sie stützte sich auf ihren Stuhl und ließ sich darauf sinken. Der Schmerz, dem sie unbedingt hatte entkommen wollen, war nun wieder da und nahm viel zu viel Raum ein.
»Mom?«, sagte er, und es klang wie ein Flehen.
Da endlich nickte sie und zeigte ihm zum ersten Mal seit vielen Jahren rückhaltlos, wie sie sich fühlte. »Heute ist unser Hochzeitstag. Dein Daddy hat das Herz in unseren
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