Das Geheimnis der Schwestern
als wäre er stundenlang herumgetigert und sich dabei immer wieder mit der Hand durch die Haare gefahren, bis sie nach allen Richtungen abstanden. Sein Hemd war auch falsch zugeknöpft. »Stimmt was nicht?«, fragte sie.
»Mein ganzes Leben stimmt nicht.«
»Das kenne ich.«
»Wirklich?«
»Na klar«, erwiderte sie leise und stellte die Teetasse auf dem Tisch hinter sich ab. »Ich bin dreiundvierzig, Mark. Ich war nie verheiratet und werde wahrscheinlich auch keine Kinder mehr kriegen können. Vielleicht ist dir auch aufgefallen, dass ich ein Problem mit meinem Gewicht habe. Also weiß ich, wie es sich anfühlt, wenn das Leben sich nicht so entwickelt wie erhofft.«
»Es war heute Abend so schön mit dir. Da bekam ich’s mit der Angst.«
»Ist schon gut. Wir haben doch Zeit.«
Er schüttelte den Kopf. »Genau das habe ich im letzten Jahr gelernt. Man denkt immer, man hätte alle Zeit der Welt, aber es kann jeden Moment zu Ende sein.«
»Was willst du damit sagen?«
Er trat näher zu ihr. »Damit will ich sagen: Ich will dich, Winona.«
Sie spürte einen Anflug von Erregung, doch so berauschend es auch war, konnte sie sich dem doch nicht völlig hingeben. Auch wenn ihr Körper sich nach seiner Berührung verzehrte, konnte sie ihren Kopf nicht ausschalten. »Du bist noch nicht bereit«, sagte sie.
»Allerdings nicht.«
»Das hättest du auch abstreiten können.«
Er legte ihr die Hand um den Nacken. Seine Finger waren warm und fest. Sie lehnte sich ein winziges Stück zurück, so dass sie sich von ihm gehalten und geborgen fühlte.
»Willst du mich auch?«, fragte er.
Sie spürte seinen warmen Atem an ihren Lippen. Sie wollte die Augen schließen oder den Blick abwenden, um der Wahrheit auszuweichen. Aber sie war so klar und deutlich in seinem Blick zu sehen wie ein Seestern bei Ebbe. Er liebte seine Frau immer noch.
Andererseits war sie schon so lange allein, daher brachte sie es einfach nicht über sich, die Gelegenheit, die sich so überraschend ergeben hatte, verstreichen zu lassen. Sie schmiegte sich enger an ihn und sah zu ihm auf. »Ich will dich.«
Sein Kuss war wie kühles Wasser für ihre verdorrte Seele, und sie trank gierig davon. Als sie sich schließlich voneinander lösten, sah sie ihr eigenes Verlangen in seinem Blick gespiegelt.
»Komm«, bat sie, nahm ihn bei der Hand und führte ihn ins Haus, den Flur hinunter in ihr Schlafzimmer. Ohne Licht zu machen, streifte sie Bademantel und Nachthemd ab und zog ihn ins Bett.
Er küsste sie, bis sie ihn um mehr anflehte, und als er sie liebte, klammerte sie sich mit der verzweifelten Leidenschaft einer Frau an ihn, die viel zu lange allein war. Ihre Erfüllung kam in einer köstlichen Mischung aus Lust und Schmerz, die sie aufschreien, fast schluchzen ließ wegen der Gefühle, die damit aufgerührt wurden.
»Das war großartig«, sagte er danach, lehnte sich gegen die Kissen und zog sie eng an sich.
Sie schmiegte sich an ihn. Sie hatte schon so lange nicht mehr ihr Bett mit einem Mann geteilt, dass ihr erst jetzt wieder einfiel, wie viel Platz Männer einnahmen, wie schwer ihre Beine waren und wie nett es war, wenn einen jemand einfach so auf die nackte Schulter küsste.
Sie unterhielten und küssten sich bis spät in die Nacht, und später liebten sie sich noch einmal. Gegen vier Uhr morgens zog Winona schließlich ihr Nachthemd wieder an und ging in die Küche. Als sie ins Schlafzimmer zurückkehrte, brachte sie ein ganzes Tablett voller Speisen mit: Denver-Omeletts, Toast mit Honig aus dem Umland und frisch gepressten Orangensaft.
Mark setzte sich auf. Das Laken glitt ihm vom nackten Oberkörper.
Sie stieg neben ihm ins Bett.
»Es hat schon lange keiner mehr für mich gekocht«, sagte er und gab ihr einen Kuss.
Die Wahrheit war, dass sie mindestens tausend Rezepte in ihrer Sammlung im Stadthaus hatte. Seit Jahren sammelte sie sie, perfektionierte sie und wartete darauf, sie für jemanden nachzukochen. Jetzt aß sie ihr Frühstück und hörte ihm zu. Er erzählte ihr von den Ländern, die er gesehen hatte, von den Problemen, allein ein pubertierendes Mädchen zu erziehen, und seiner Begeisterung, in Oyster Shores noch einmal ganz von vorn anfangen zu können.
Nach dem Frühstück zog er sie in seine Arme und küsste sie. Als er sie losließ, lagen sie nebeneinander, hatten die Beine miteinander verschlungen und blickten sich an.
»Wieso hast du nie deine Familie besucht, zum Beispiel zu Weihnachten?«
»Ich bin hier mit achtzehn
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