Das Geheimnis der Schwestern
Flitterwochen dort hineingeschnitzt.«
»Du hast ihn noch nie ›dein Daddy‹ genannt.«
»Weil es zu weh tut.«
»Beantwortest du jetzt meine Fragen?«
»Wenn ich kann. Komm, gehen wir ins Haus. Es wird wohl eine Weile dauern.« Sie stand auf, folgte ihm hinein, schenkte sich ein Glas Weißwein ein, setzte sich dann aufs Sofa.
Noah setzte sich ihr gegenüber in einen Sessel. »Erzähl mir von dem Mord.«
»Das ist dir also am wichtigsten? Hmmm. Nun, es wurde eine Frau ermordet – eine Freundin deines Vaters, genauer gesagt. Ich glaube, die Polizei hatte deinen Vater von Anfang an in Verdacht.«
»Hat er es getan?«
Sie hatte sich gegen diese Frage gewappnet, hatte sich über zehn Jahre darauf vorbereitet, doch nun, da sie endlich im Raum stand, wusste sie nicht, was sie sagen sollte. »Dein Dad verlor manchmal die Beherrschung.«
»Wie ich?«
»Nein, das ist nicht zu vergleichen«, widersprach sie entschieden.
»Hat er diese Frau getötet?«, fragte Noah noch einmal.
Sie wusste, er würde nachhaken, bis sie antwortete. Daher seufzte sie und sagte ihm die Wahrheit. »Ich glaube nicht, dass er es war.«
»Hast du ihn geliebt?«
Vivi Ann spürte, wie ihr die Tränen in die Augen traten. Und sie konnte nicht das Geringste dagegen tun. »Aus tiefstem Herzen.«
»Warum hast du dich dann von ihm scheiden lassen?«
»Eigentlich hat er sich von mir scheiden lassen, aber im Grunde willst du doch etwas anderes wissen. Du willst wissen, warum ich … ihn aufgegeben habe.« Selbst nach all der langen Zeit tat es weh, daran zu denken, sich daran zu erinnern, wie sie ihn hatte ziehen lassen.
»Es tat so weh, immer weiterzumachen, Jahr für Jahr, und zu hoffen. Bei jeder schlechten Neuigkeit verlor ich den Boden unter den Füßen. Du erinnerst dich sicher noch an etwas aus dieser Zeit. Ich habe viele Pillen geschluckt und zu viel getrunken. Ich war eine schlechte Mutter. Ich glaube, dein Dad liebte mich so sehr, dass er mich zwang, ihn aufzugeben. Und nachdem wir dann im Grey Park gegen den Baum gefahren sind – weißt du noch? Da war ich zu Tode erschrocken darüber, was ich dir fast angetan hätte. Ich wusste, ich musste mich lösen und mein Leben leben. Wir mussten unser Leben leben. Du und ich.«
»Wie konntest du ihm das antun?«
Sie schloss die Augen. Diese Frage hatte sie niemals losgelassen. Wie oft schon hatte sie sich gewünscht, die Zeit zurückzudrehen und zu sagen: Nein, Dallas. Ich gehe nicht weg. Ich unterschreibe diese Papiere nicht. »Es musste einfach sein. Aber ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass ich mir das je verzeihen werde.«
Noah stand auf und umrundete den Sofatisch. Er setzte sich neben sie und legte den Kopf in ihren Schoß, so wie früher. Sofort strich sie ihm mit den Fingern durch sein seidiges Haar.
Genau wie das seines Vaters …
»Hat er mich geliebt?«, fragte Noah so leise und zaghaft, dass sie erkannte, warum er zu ihr gekommen war. Sie sollte nicht sehen, dass er weinte.
»Ach, Noah«, flüsterte sie. »Er hat dich sehr geliebt. Deshalb wollte er dich auch nicht sehen. Es hätte ihm das Herz gebrochen, dich durch Gefängnisgitter sehen zu müssen.«
»Das ist doch feige.«
»Nein, menschlich.«
»Könnte ich ihm einen Brief schreiben?«
»Ich glaube nicht, dass er dir antworten würde. Könntest du das aushalten?«
»Jedenfalls besser, als es gar nicht zu versuchen.«
Früher hatte Vivi Ann auch so gedacht; aber jetzt wusste sie, dass es schlimmer sein konnte, etwas immer wieder zu versuchen, als es aufzugeben. »Na dann. Versuch es. Ich hab dich lieb, Noah. Und ich bin sehr stolz auf dich.«
»Ich hab dich auch lieb, Mom.« Er wischte sich unauffällig über die Augen, so als meinte er, sie hätte seine Tränen nicht gesehen. »Es war irgendwie cool, weißt du. Das Herz im Baum.«
»Ja«, sagte sie und sah es vor ihrem inneren Auge, »das war es.«
Ich dachte, ich bekäme Antworten auf meine Fragen, wenn wir über Dad reden. Stattdessen habe ich nur noch mehr Fragen. Die ganze Zeit musste ich an das geschnitzte Herz im Baum denken. Ich weiß, wie er sich fühlte, als er es schnitzte, deshalb ist es so, als würde ich einen Teil von ihm kennen. Und jetzt will ich mehr von ihm wissen.
Ich hab versucht, es vor Cissy zu verbergen. Als wir uns das nächste Mal trafen, war es schon Dienstag. Mom gab Reitunterricht, und Tante Winona und Mark waren nach Seattle gefahren. Cissy und ich verbrachten den Tag auf einer großen Decke in ihrem Garten. Ich wollte so
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