Das Geheimnis der Schwestern
tun, als wäre alles wie vorher, aber sie merkte, dass irgendwas nicht stimmte. Ich schätze, durch Liebe kriegt man Röntgenaugen oder so. Ich saß einfach nur da und trank mein Rootbeer, da sagte sie: »Ich weiß, dass du was vor mir geheim hältst, und das gefällt mir nicht.«
Ich erwiderte, das Geheimnis würde ihr auch nicht gefallen, da sagte sie, wenn wir uns wirklich liebten, dürften wir keine Geheimnisse voreinander haben.
»Aber ich liebe dich wirklich«, sagte ich.
»Dann beweise es«, verlangte sie.
Ich hätte auch was erfinden können, zum Beispiel, dass ich durch Literatur falle oder so, aber ehrlich gesagt wollte ich es ihr sagen. »Ich hab Angst«, sagte ich.
»Wovor?«
Ich antwortete, dass sie mich nicht mehr mögen würde, wenn sie die Wahrheit wüsste. Aber da in zehn Tagen die Schule sowieso wieder anfängt, konnte ich es ihr auch gleich sagen. Sonst würden es Brian, Erik Junior und die anderen für mich übernehmen.
Sie sagte, sie möge mich nicht, sondern sie liebe mich, und nichts könne das ändern.
Also erzählte ich ihr alles: dass mein Dad Dallas Raintree und halb weiß, halb Indianer ist, dass er in die Stadt kam und einen Job auf Water’s Edge bekam und dass er Mom heiratete, obwohl die Familie dagegen war. Ich erzählte ihr von seiner Unbeherrschtheit und den Prügeleien, in die er ständig geriet. Und ich erzählte, dass er eine Frau umbrachte und dafür ins Gefängnis kam. Danach konnte ich sie nicht mal ansehen. Ich hatte noch nie so viel über meinen Dad geredet, und mir war ziemlich schlecht.
Sie rückte näher auf der Decke zu mir und wollte mich dazu bringen, sie anzusehen, aber ich konnte nicht. Ich starrte nur auf den Kanal, als sähe ich ihn zum ersten Mal. Sie fasste meine Schulter und zog mich hinunter auf die Decke, so dass wir nebeneinanderlagen und uns ansehen konnten.
»Das weiß ich alles«, sagte sie. »Mein Dad hat mir das alles schon längst erzählt. Wusstest du, dass meine Grandma als Zeugin gegen deinen Dad ausgesagt hat?«
Es ist komisch, wie ein Satz einen manchmal kalt erwischen kann. Mein ganzes Leben lang habe ich über meinen Dad nachgedacht und darüber, dass er im Gefängnis sitzt. Ich hab mir vorgestellt, wie er wohl aussieht, wie er hinter Gittern lebt und was er über mich denkt. Aber bevor Cissy das über ihre Großmutter sagte, habe ich nicht ein einziges Mal darüber nachgedacht, wie er ins Gefängnis kam. Wie man bewiesen hat, dass er schuldig ist.
»Glaubst du, er war es?«, fragte sie.
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Wie auch? Für mich ist mein Dad wie ein Phantom. Jedes Mal wenn ich versuchte, mich an reale Dinge zu erinnern, kam fast nichts – nur ein Paar dreckige Cowboystiefel, ein weißer Hut, mit dem ich früher spielte, eine Stimme, die etwas in einer fremden Sprache zu mir sagte.
»Du solltest ihn besuchen«, sagte sie.
Und so entstand unser Plan.
Am letzten Tag vom Stadtfest räumte Vivi Ann den Reitstall auf, verabschiedete sich von ihrer Jugendgruppe und ging dann hinunter zur geschmückten Hauptstraße.
Aurora wartete schon am Kartenstand auf sie. »Du bist spät dran.«
»Die Mädchen sind gerade erst gegangen. Außerdem haben wir vier Uhr vereinbart. Ich bin also fast noch pünktlich.« Sie stibitzte sich ein Stück Zuckerwatte von ihrer Schwester und stopfte es sich in den Mund.
»Hoffentlich hat Winona uns nicht vergessen«, sagte Aurora und stemmte eine Hand in ihre schmale Hüfte.
»Sie ist verliebt. Wenn man verliebt ist, vergisst man alles andere.«
Aurora sah sie mit gerunzelter Stirn an. »Was ist denn mit dir los? Du wirkst ja fast glücklich.«
»Hast du was daran auszusetzen? Ich habe eine gute Woche hinter mir. Noah und ich haben endlich über Dallas geredet. Das war gut.«
»Wo ist der kleine Tunichtgut denn? Irgendwo Crack rauchen?«
»Was denn, ist Janie schon wieder hier?«
Wider Willen musste Aurora lächeln. »Ich freue mich, dass ihr endlich geredet habt und dass du glücklich bist, aber wo bleibt jetzt Winona, dieses Miststück?«
»Da«, sagte Vivi Ann, als sie Winona und Mark auf sie zukommen sah.
»Hat sie etwa ihren Freund mitgebracht? Zu unserem Weiberabend? Das geht ja wohl gar nicht«, entrüstete sich Aurora und stopfte den Rest der Zuckerwatte in einen Mülleimer.
»Gott sei Dank«, sagte Winona außer Atem, als sie sie erreicht hatte. »Ich hab schon seit über einer Stunde versucht, dich anzurufen, Vivi.«
»Du weißt doch, dass ich am Reitstall
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