Das Geheimnis der Schwestern
unpassierbar wurden. Jetzt hielt die Familie freiwillig daran fest. Bei Regen und Sonnenschein trafen sich alle am späten Morgen im Farmhaus und gingen gemeinsam in die Stadt. Für ihren Vater war es wichtig, ja entscheidend, dass die Greys in der Stadt respektiert wurden und ihr Anteil an der Gründung von Oyster Shores nicht in Vergessenheit geriet. Daher betraten sie einmal im Monat die Kirche, um die Einwohner daran zu erinnern, dass ihre Familie auch erschienen war, als die Straßen für Pferdewagen unpassierbar waren.
An diesem ersten Sonntag im Februar stand Vivi Ann eine Stunde früher auf als sonst, um die Pferde zu füttern, damit ihr Dad nichts von Travis’ Ausfall bemerkte. Sie wollte sich nicht seine Klagen über ihre mangelnde Menschenkenntnis anhören. Nicht heute.
Denn heute wollte sie ihn mit ihrem perfekten Plan überraschen.
Nach Erledigung ihrer Pflichten kehrte sie ins Haus zurück, duschte und zog sich für die Kirche an. Als sie in einem weißen geschnürten Rock mit Bluse, breitem Gürtel und ihren guten Cowboystiefeln nach unten kam, hatte sich die ganze Familie bereits auf der Veranda versammelt.
Aurora und Richard standen zusammen und versuchten, die Zwillinge von ihren üblichen Verwüstungen abzuhalten, während Winona am Geländer lehnte und hinauf zu den hübschen Windspielen aus Glas und Treibholz blickte, die ihre Mutter angefertigt hatte.
Ihr Vater trat auf den Vorplatz und prüfte wie üblich das Wetter. »Na, dann mal los.«
Sie nahmen ihre übliche Aufstellung ein, ihr Dad ganz vorn mit mindestens drei Metern Abstand zu den anderen, weil er zu schnell ging. Richard und die Kinder versuchten, mit ihm Schritt zu halten. Die Mädchen bildeten das Schlusslicht und hielten sich, wie schon ihr ganzes Leben, dicht beieinander.
»Wie ich sehe, schlägt Dad sein übliches Marschtempo an«, bemerkte Winona.
»Ich werde nie begreifen, warum ich mit dem Wagen zur Farm fahre, um dann zur Kirche zurückzulaufen«, erwiderte Aurora. Diese Klage wiederholte sich, mit wenigen Variationen, jeden Monat. »Wie war das Rodeo?«
»Großartig. Ich hab den Sattel und fünfzehnhundert Dollar gewonnen.«
»Schön für dich«, meinte Winona. »Das Geld könnt ihr ja weiß Gott brauchen.«
Vivi Ann lächelte bei der Vorstellung, welch ein Triumph es würde, wenn sie ihren Geschäftsplan vorstellte. Zum ersten Mal würde Winona aufgehen, wie klug ihre jüngste Schwester wirklich war. »Ist was Interessantes passiert, während ich weg war?«
Für den Bruchteil einer Sekunde stockte das Gespräch. Dann sagte Aurora: »Luke Connelly ist wieder da.«
»Der Junge von nebenan? War er nicht mit euch in der Schule?« Vivi Ann versuchte, ein Bild von ihm vor ihrem inneren Auge zu beschwören, aber es gelang ihr nicht. »Was will er denn hier?«
»Er ist Tierarzt«, antwortete Aurora. »Winona –«
»Berät ihn«, schaltete Winona sich ein.
Vivi Ann runzelte die Stirn. Sie hatte das merkwürdige Gefühl, als wüssten ihre Schwestern mehr als sie. Sie sah sie abwechselnd an, zuckte dann aber mit den Schultern. Sie hatte im Moment zu viel im Kopf, um jedes Wort auf unterschwellige Bedeutungen abzuklopfen. »Ich erinnere mich kaum noch an ihn. Sieht er gut aus?«
»Diese Frage ist typisch für dich«, erwiderte Winona spröde.
Aber für den Rest des Weges unterhielten sie sich angeregt. Mehr als einmal wäre Vivi Ann am liebsten mit ihrer Idee herausgeplatzt, aber in einem seltsamen Anflug von Zurückhaltung entschied sie sich, lieber zu warten.
Nach dem Gottesdienst gingen sie wie üblich in den Gemeindesaal im Untergeschoss, um sich bei Kaffee und Kuchen unter Freunde und Bekannte zu mischen. Gesprächsthema Nummer eins war natürlich Luke Connellys Rückkehr. Sein unerwartetes Auftauchen führte zu einer Menge Geschichten über die alten Zeiten, als Vivi Anns und Lukes Mütter noch die hübschesten Frauen der ganzen Stadt waren. Normalerweise war Vivi Ann begierig, solche Geschichten zu hören – jede Erwähnung ihrer Mutter war etwas ganz Besonderes –, aber an diesem Tag war sie zu abgelenkt, um sich zu entspannen und die Gespräche zu genießen. Außerdem war Luke nicht in der Kirche erschienen, daher verlor sie rasch das Interesse.
Etwas schneller als üblich trieb sie ihre Familie zusammen und drängte sie, nach Hause zu gehen. »Bevor es anfängt zu regnen«, sagte sie, und das reichte. Sie waren oft genug im Regen nach Hause gegangen, um zu wissen, wie unangenehm das war.
In ihrer
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