Das Geheimnis der Schwestern
silbernen Discokugel tanzend (oder zumindest bei dem Versuch).
»Wir haben der angesagten Clique mal gezeigt, wie man tanzt, oder nicht?«, fragte er.
Sie spürte, wie ein Lächeln sie überkam. Irgendwie hatte sie in der Aufregung über seine Rückkehr vergessen, wie sie in jenem Jahr nach dem Tod ihrer Mutter zusammengekommen waren: die dicke, stille Fünfzehnjährige, die in ihrer eigenen Welt gelebt hatte, und der ungelenke Junge mit den Pickeln, der seinen Vater fast zehn Jahre zuvor bei einem Bootsunfall verloren hatte. Es wird irgendwann besser. Dieser Satz war das Erste gewesen, was sie wirklich bewusst von ihm wahrgenommen hatte. Vorher war er nur der Sohn der besten Freundin ihrer Mutter gewesen.
Danach hatte sich fast zwei Jahre lang nahezu alles, was er gesagt hatte, als richtig erwiesen. Dann war er weggezogen, ohne sie je geküsst zu haben, und hatte nicht mehr angerufen. Sie hatten sich eine Zeitlang geschrieben, doch das hatte auch irgendwann aufgehört.
Jetzt hielt er vor dem Restaurant und parkte am Bordstein. Ein Scheinwerfer neben dem Eingang beleuchtete einen Garten voller Gartenzwerge, die im Sommer niedlich wirkten, aber jetzt, an diesem Winterabend, seltsam makaber. Sie ging voran in die viktorianische Villa, die zu einem Restaurant umfunktioniert worden war. An diesem Abend waren sie die einzigen Gäste unter sechzig. Sie wurden zu einem Ecktisch mit Blick auf den Canal geführt. Unter ihnen erstreckte sich ein ausgeblichener Wellenbrecher vor einem grauen Strand, der mit Streifen zerbrochener Austernschalen und bronzefarbenem Tang bedeckt war. Auf dem Anleger des Restaurants lagen dicht aneinandergedrängt ein paar Robben.
Es dauerte nicht lange, da kamen ihre Drinks: für ihn ein Bier, für sie eine Margarita.
»Auf alte Freunde«, sagte er.
»Auf alte Freunde.«
»Hattest du schon Zeit, dir den Vertrag anzusehen?«
»Ja. Als deine Anwältin muss ich dir sagen, dass alles in Ordnung zu sein scheint. Ich würde ein paar Änderungen vorschlagen, aber nichts Großes.« Sie sah ihn über den Tisch hinweg an und senkte die Stimme. »Aber als deine Freundin muss ich dir sagen, dass Moorman nicht den besten Ruf hat. Er kämpft schon seit Jahren mit einem ernsten Alkoholpro blem; das heißt, eigentlich kämpft er nicht, sondern ergibt sich meist sofort. Vor ein paar Jahren hat er einen jungen Tierarzt zum Partner gemacht, und es heißt, er hätte ihn fast ruiniert.«
»Im Ernst?«
»Ehrlich gesagt, Luke, glaube ich, es wäre besser, du würdest deine eigene Praxis eröffnen. Die Leute hier würden dich mit offenen Armen empfangen. Du könntest die Praxis in deinem Haus einrichten und euren Stall mit den vier Boxen wieder auf Vordermann bringen. In ein paar Jahren wärest du dann vielleicht in der Lage, ganz neue Praxisräume zu bauen.«
Luke lehnte sich zurück. »Sehr enttäuschend.«
»Tut mir leid. Du hast mich um meine Meinung gebeten.«
»Das muss dir nicht leidtun. Ich habe immer deinen scharfen Verstand geliebt. Und ich weiß, dass ich dir vertrauen kann. Also danke.«
Aber sie hatte nach dem Wort geliebt nicht mehr zugehört.
Vivi Ann wartete hinter der Schutzwand darauf, dass sie an die Reihe kam. Weitere vierzehn Mädchen und Frauen, die es unter die ersten fünfzehn geschafft hatten, warteten mit ihr, alle zu Pferd. Durch die Lautsprecher dröhnten die Zeiten und Ränge, angefangen mit der schlechtesten Zeit, dann aufsteigend bis zur besten. Sie war jetzt schon fast eine Woche in Texas, und es war eines der besten Rodeos ihres ganzen Lebens gewesen.
Sie strich ihrer Stute über den schweißnassen Hals. »Hey, mein Mädchen«, sagte sie. »Bist du bereit zum Sieg?«
Sie spürte, dass Clems Herz wie ein Vorschlaghammer schlug. Sie war bereit.
Als Vivi Ann kurz darauf ihren Namen aus den riesigen schwarzen Lautsprechern dröhnen hörte, schoss ihr ein solcher Adrenalinstoß durchs Blut, dass sie vollkommen auf den Augenblick konzentriert war.
Sie schob ihren Hut tief in die Stirn. Clem tänzelte und sprang zum Gatter. Vivi Ann zog die Zügel an und hielt das Pferd zurück, bis sie genau in der richtigen Position für das erste Fass waren.
Dann lockerte sie die Zügel, und los ging’s, mit gesenkten Köpfen, so schnell in die Arena, dass alles um sie herum nur ein undeutliches Gewirr aus Farben und Geräuschen war. Vivi Ann sah nur die drei Fässer, die in einem leuchtend gelben Dreieck aufgestellt waren und auf sie warteten. Den ganzen Weg durch das Dreieck und um die
Weitere Kostenlose Bücher