Das Geheimnis der Schwestern
dass sie sie ihrer Familie präsentieren konnte.
Sie konnte es kaum abwarten. Sie würden alle so stolz auf sie sein.
Sie fuhr zum Rangierplatz am Stall, machte den Mo tor aus, stieg vom Fahrersitz und ging zur Tür des Anhängers.
»Hey, Clemmie«, sagte sie und klopfte der Stute auf ihr kräftiges Hinterteil. »Bist du auch so müde?«
Clem drehte sich um und stupste sie leise wiehernd mit dem Kopf an.
Vivi Ann befestigte die Longe an Clems Nylonhalfter und zog sie aus dem Anhänger. »Jetzt brauchst du nicht mehr in den Stall«, sagte sie, führte sie auf die Weide und löste die Longe. Nach einem weiteren Schlag auf Clems Hinterteil sah sie zu, wie sie davonschoss. Sekunden später rollte sich die Stute im Gras.
Vivi Ann sparte sich das Ausfegen des Anhängers für den nächsten Tag auf, schloss die Tür und ging zum Haus. Erst da fiel ihr auf, dass das Tor zum Stall offen stand.
Als sie hineinging, um zu prüfen, ob alles in Ordnung war, traf sie auf ein Chaos. Die Boxen waren nicht ausgemistet, und mehrere Pferde hatten kein Wasser.
Vivi Ann fluchte leise und ging über den Schotterweg zu dem alten Cottage ihrer Großeltern. Es wurde seit Jahren als Unterkunft für die Männer genutzt, die ihr auf der Ranch halfen.
Sie klopfte mehrmals, und als sie keine Antwort bekam, trat sie einfach ein.
Drinnen war es noch chaotischer als im Stall. In der winzigen Küche stapelte sich schmutziges Geschirr, und in den Töpfen schimmelten Essensreste. Überall standen leere Pizzaschachteln und Bierdosen, Sessel und Sofa waren mit Kleiderhaufen bedeckt.
Sie hörte jemanden im Schlafzimmer schnarchen. Sie eilte durch den kleinen Wohnbereich, stieß die Schlafzimmertür auf und machte Licht.
Travis lag, vollständig angezogen, quer auf dem Messingbett. Er hatte nicht mal seine Cowboystiefel ausgezogen, daher war die Tagesdecke ihrer Großmutter dreckverschmiert.
»Travis«, fauchte sie. »Wach auf.«
Sie musste noch mehrmals laut seinen Namen rufen, bis er sich zur Seite rollte und sie mit seinen blutunterlaufenen Augen trüb anstarrte.
»Hey, Vivi.« Er fuhr sich mit der Hand über den Kopf, so dass sein kurzgeschorenes Haar stachlig abstand. Seine Wangen waren bleich, und unter seinen Augen zeigten sich dunkle Ringe. Vivi Ann hegte nicht den geringsten Zweifel, dass er ein mindestens zweitägiges Saufgelage hinter sich hatte.
»Die Boxen sind total verdreckt, Travis, und die Pferde haben kein Wasser. Hast du sie heute überhaupt schon gefüttert?«
Travis setzte sich mühsam auf. »Tut mir leid. Ich hab nur … Sally hat einen anderen.« Er wirkte, als wollte er anfangen zu weinen, worauf Vivi Anns Zorn verflog. Sie setzte sich zu ihm aufs Bett. Travis und Sally waren seit der Highschool ein Paar gewesen.
»Vielleicht kannst du sie zurückgewinnen«, sagte sie.
»Glaub ich nicht. Sie … liebt mich einfach nicht mehr.«
Vivi Ann wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte einfach keine Ahnung von der großen Liebe; allerdings glaubte sie daran. »Wir sind doch noch jung, Travis. Du wirst schon eine andere finden.«
»Fünfundzwanzig ist doch nicht mehr jung, Vivi! Außerdem will ich keine andere. Was soll ich bloß machen?«
Vivi Ann zerfloss vor Mitleid. Sie wusste, was sie jetzt eigentlich tun sollte, was Dad oder Winona tun würden. Aber sie war eben nicht so, sie konnte nicht zu ihm sagen, er solle sich zusammenreißen und wieder an die Arbeit gehen. Sie hatte schon früh gelernt, dass ein gebrochenes Herz behutsam behandelt werden musste. Das war eine Lektion, die jedes mutterlose Mädchen lernte. »Ich kümmere mich heute um die Pferde, aber ich möchte, dass du morgen jede Box gründlich ausmistest, klar? Im Offenstall ist frisches Sägemehl. Kann ich mich auf dich verlassen?«
»Na klar, Vivi«, versprach er und ließ sich wieder aufs Bett sinken. »Danke.«
Sie wusste, dass sie sich nicht auf ihn verlassen konnte, aber was sollte sie sonst machen? Seufzend verließ sie das Cottage und löschte hinter sich das Licht. Auf dem Rückweg zum Stall kämpfte sie gegen die Woge der Müdigkeit, die sie zu überwältigen drohte. Da fing es an zu regnen.
»Na, super.«
Sie schlug den Kragen ihrer Jacke hoch, zog den Kopf ein und rannte die restliche Strecke.
Am ersten Sonntag jeden Monats gingen die Greys zu Fuß in die Kirche. Das war eine Tradition, die schon vor Generationen begründet worden war. Damals war es nicht anders möglich gewesen, weil im Winter die Straßen durch Regen und Schnee
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