Das Geheimnis der Schwestern
alten Formation marschierten sie durch den Ort und bogen dann in ihre Zufahrt ein. Zu beiden Seiten erstreckten sich die eingezäunten grünen Weiden. Am Ende der Auffahrt stand ihr schönes gelbes Farmhaus, das von einer weißen Veranda umgeben war. Dahinter lagen, grau in grau vom Nebel verhüllt, der Kanal und die fernen Berge.
Clementine wieherte, als sie Vivi Ann sah, und kam auf sie zugaloppiert.
Vivi Ann raffte ihren Rock und schlüpfte zwischen den Latten des Koppelzauns hindurch.
»Nicht schon wieder«, rief Winona ihr nach.
Lachend schwang sich Vivi Ann auf Clems breiten Rücken. Ohne Zügel oder Zaumzeug hatte sie zwar eigentlich keine Kontrolle über das Pferd, aber sie vertraute ihm völlig. Sie drückte ihre Fersen in Clems Flanken, und das Pferd raste los, über die grüne Weide zum Haus. Vivi Ann klammerte sich an Clems Mähne. Sie ritten so schnell, dass ihre Augen tränten; Haarsträhnen schlugen ihr ins Gesicht.
Das liebte sie. Jeden Augenblick konnte Clem sie abwerfen oder so plötzlich stehen bleiben oder kehrtmachen, dass sie sich nicht mehr halten konnte.
Als sie sich dem Haus näherten, flüsterte sie: »Ho, mein Mädchen. Ho«, und strich ihr über das weiche Fell.
Als die Familie schließlich eintrudelte, begrüßte sie Vivi Ann auf der Veranda.
»Du bist mir vielleicht ein Vorbild«, sagte Aurora. »Ich hoffe, du hörst auf damit, wenn Janie Reitstunden nimmt.«
»Sie sollte längst angefangen haben«, erwiderte Vivi Ann. »Als Mom uns das Reiten beigebracht hat, waren wir drei, schon vergessen?«
»Du warst drei«, korrigierte Aurora sie. »Du Wunderkind. Ich war fünf und Winona –«
»Davon wollen wir erst gar nicht anfangen«, unterbrach sie Winona.
Lachend gingen sie ins Haus und machten sich an die Arbeit. Vivi Ann ging vor in die Küche, Winona folgte ihr, um ihr zur Hand zu gehen – normalerweise, um Gemüse zu schnippeln und Salat zu machen –, während Aurora den Tisch deckte. Die Kinder verzogen sich nach oben, um Videos zu gucken, während ihr Vater und Richard schweigend im Fernsehzimmer saßen, Bier tranken und Sportsendungen sahen.
Die nächsten zwei Stunden bereiteten die Mädchen redend, scherzend und lachend das Essen zu. Als der Rinderbraten fertig war, hatten sie bereits eine Flasche Chardonnay geleert und eine zweite geöffnet.
Das Sonntagsessen begann wie immer mit einem Tischgebet, das ihr Dad sprach. Danach unterhielten sie sich zwanglos. Vivi Ann versuchte, auf eine Gesprächspause zu warten, um ihre Idee vorzubringen, aber jetzt, da sie endlich bei Tisch waren, konnte sie nicht länger warten. Ihre Begeisterung ging mit ihr durch.
Also platzte sie einfach damit heraus: »Ich hab mir etwas ausgedacht. Eine Möglichkeit, hier mit der Ranch Geld zu verdienen.«
Alle merkten auf.
Winona runzelte die Stirn. Offenbar war sie gerade mitten in einer Erzählung gewesen, aber Vivi Ann hatte das nicht mitbekommen.
»In Texas war ich ziemlich oft mit Holly und Gerald Bruhn zusammen. Wisst ihr, die beiden, die in Hood River eine große Rodeo-Arena gebaut haben. Jedenfalls hat Holly für die Wintersaison eine Reihe Barrel-Racing-Rodeos ins Leben gerufen. Acht Wochen in Folge, immer samstags. Es gibt Geld und Preise.«
»Da gewinnst du doch immer«, meinte Aurora.
»Nein«, sagte Vivi Ann, »darauf wollte ich nicht hinaus. Ich möchte das Gleiche hier in Water’s Edge veranstalten.«
Ihr Vater zuckte mit den Schultern. »Könnte funktionieren.«
Vivi Ann grinste, weil er sie ermutigte. »Falls ja, könnten wir auch Team-Pennings und -Ropings veranstalten. Holly meinte, letzte Woche hätten sie über vierhundert Teams beim Roping gehabt.«
Jetzt hatte sie die ungeteilte Aufmerksamkeit ihres Vaters. »Das kostet aber einiges.«
»Ich hab mich mal kundig gemacht. Wahrscheinlich bräuchten wir nur etwa einhunderttausend Dollar.«
Winona lachte. »Ach, mehr nicht?«
Vivi Ann war überrascht und auch ein klein wenig verletzt. »Wir könnten doch einen Kredit aufnehmen. Eine Hypothek aufs Haus.«
Das brachte alle zum Schweigen.
»Eine Hypothek hatten wir noch nie«, sagte ihr Dad.
»Die Zeiten ändern sich, Dad«, entgegnete Vivi Ann. »Ich glaube wirklich, dass das ein Erfolg werden könnte. Wir bräuchten nur ein paar Bullen, eine Pistenraupe, einen neuen Traktor und –«
»Das ist doch ein Witz, oder?«, fragte Winona. Sie lächelte nicht.
»Ich hab es weiß Gott satt, jeden Tag Pferde zu beschlagen und mir ständig Sorgen um die Steuern zu
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