Das Geheimnis der Schwestern
käme aus dem Gefängnis.
Wer weiß, was ich jetzt mache …
Als ich heute Abend die Pferde fütterte, kam Renegade zum Zaun und stupste mich mit der Nase an, so dass ich hinfiel. Das war echt krass, weil er normalerweise immer Abstand hält und nur zusieht, wie ich ihm Heu hinwerfe. Er ist unser einziges Pferd, das sich nicht viel aus Futter zu machen scheint. Nachdem er mich in die Pfütze gestoßen hatte, brüllte ich ihn an und warf ihm ein Bündel Heu direkt an den Kopf.
Da kam meine Mom zu mir. Ich sagte zu ihr, das Pferd wäre durchgeknallt. Da fragte sie: »Hab ich dir je erzählt, wie ich Renegade gerettet habe?«
»Du hast gesagt, er wäre völlig fertig und ausgehungert gewesen«, antwortete ich. Ich war immer noch sauer auf alles. Auf das Scheißgericht, auf meinen Dad, der mich nicht sehen wollte, und das Pferd, das mich umgeworfen hatte. Auch auf Mom war ich sauer, aus verschiedenen Gründen. Ich schätze, ich war schon ziemlich lange sauer auf sie.
Sie stützte sich mit den Armen auf dem Zaun ab und sah den alten schwarzen Klepper an, als wäre er etwas ganz Besonderes. »Dein Dad konnte dieses Pferd zum Tanzen bringen, wenn er wollte«, sagte sie. »Ich hab nie jemanden gesehen, der besser reiten konnte.«
Ich wünschte, ich könnte beschreiben, wie ich mich da fühlte. Es war, als hätte ich als Allererster die neue Generation eines Videospiels gesehen. Ich sagte: »Das hast du mir noch nie erzählt.« Darauf sie: »Es gibt einiges, das ich dir hätte sagen sollen.«
Sie erzählte, dass ich als kleiner Junge jeden Morgen so lange geweint hätte, bis mein Dad mich hochnahm. »Er hat dir etwas zugeflüstert«, sagte sie. »Ich wusste nie, was, aber du hast darauf gewartet.« Mom lächelte, als sie erklärte, jeder hätte mich früher als »Daddykind« bezeichnet, und ihrer Meinung nach sei ich das bis heute.
Ich sagte: »Ich glaube, er kommt nicht frei.« Da nickte Mom nur, also fragte ich sie, ob sie das die ganze Zeit gewusst habe. Sie antwortete, so etwas könne man nie mit Sicherheit wissen, aber sie sei stolz, dass ich es versucht hätte.
»Wieso fühle ich mich dann so schlecht«, fragte ich, »wenn ich das Richtige getan habe?«
Da legte Mom den Arm um mich und sagte, das Leben sei eben manchmal so.
Wir standen ziemlich lange da und starrten auf Renegade, der noch nicht einen Schritt Richtung Heu gemacht hatte.
»Wieso rührt er sich nicht?«, fragte ich schließlich. »Wieso ist er so verrückt?«
»Er hat sehr lange darauf gewartet, dass Dallas nach Hause kommt.«
Es war total komisch, aber als Mom das sagte, war es, als hätte ich das schon gewusst, und als ich das Pferd direkt ansah, bemerkte ich so etwas wie Traurigkeit in seinen Augen.
»Deshalb ist er so verstört«, sagte Mom leise. »Warten fordert seinen Tribut.«
Da sagte ich, ich wünschte, ich könnte aufhören zu warten.
»Ich auch, mein Kleiner«, erwiderte Mom. »Ich auch.«
Achtundzwanzig
Winona war ein Wrack. Die letzten vierundzwanzig Stunden hatte sie ununterbrochen gearbeitet: Gerichtsprotokolle gelesen, ihre Argumente wieder und wieder geprüft und sich auf den Tag vorbereitet, der durchaus der wichtigste ihres Lebens werden konnte.
Noch einen Monat zuvor wäre sie vollkommen sicher gewesen, dass der Tag gut enden würde. Ihre Zuversicht entsprang der Überzeugung, dass die Welt in vorhersehbaren Bahnen verlief und dass Resultate auf der Basis von Ursache und Wirkung vorausgesehen werden konnten.
Jetzt wusste sie es besser. Die hartnäckige Weigerung der Staatsanwaltschaft, das Urteil aufheben zu lassen, hatte Vivi Anns Überzeugung bestätigt. Man hatte sogar das absurde Argument vorgebracht, Urteile müssten zwingend endgültig sein – als wäre Verlässlichkeit irgendwie wichtiger als Gerechtigkeit. Vielleicht gab es wirklich so etwas wie die absolute Wahrheit, aber ganz gewiss konnte nicht eine einzelne Partei sie für sich pachten. Bei ihren Nachforschungen für Dallas’ Fall hatte sie gelesen, dass mehr als hundert Häftlinge in den vergangenen Jahren wegen neuer DNA -Analysen freigekommen waren … allerdings noch mehr eben nicht. Diese unglücklichen Menschen befanden sich allzu oft in der gleichen Position wie Dallas: Die DNA -Spuren gaben weder zwingend Ausschlag für die Schuld noch für die Unschuld des Angeklagten. Es erschütterte und beschämte Winona, wie unflexibel Staatsanwaltschaft und Polizei werden konnten, wenn erst einmal über die Schuld eines Angeklagten entschieden worden
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