Das Geheimnis der Schwestern
war. Oft konnten selbst vielfache schlagende Beweise sie nicht umstimmen, und sie kämpften mit absurden, fadenscheinigen Argumenten immer weiter dafür, dass Unschuldige noch Jahrzehnte in Haft verblieben.
»Atmen«, befahl Aurora neben ihr.
»Ich kipp gleich um.«
»Nein, tust du nicht. Jetzt atme«, wiederholte Aurora etwas sanfter, während sie sie zu dem langen, niedrigen Tisch auf der linken Seite des Gerichtssaals führte. »Viel Glück«, flüsterte sie, dann war sie fort.
Winona setzte sich und blickte mit glasigen Augen auf die gelben Notizzettel, die Kisten mit Akten und die Stifte vor sich. Ein aufgeklappter Laptop starrte ihr mattschwarz entgegen. Sie hörte, wie der Saal sich füllte. Sie hätte sich gern umgedreht und einen Blick riskiert, wusste aber, dass sie dann nur noch nervöser werden würde. Zu viele ihrer Freunde und Nachbarn würden kommen; sie wollten beruhigt werden, Gewissheit finden, dass das System funktionierte.
Dann hörte sie, wie eine Tür geöffnet wurde und Ketten klirrten. Stille senkte sich über den Saal.
Endlich stand Winona auf und drehte sich um.
Zwei Wachmänner führten Dallas zu ihr. Er trug den neuen blauen Anzug, den sie für ihn gekauft hatte, und hatte seine Haare zu einem losen Pferdeschwanz gebunden. Trotz der Ketten, die seine Handgelenke zusammenhielten und seine Schritte verkürzten, wirkte er kämpferisch. Es lag an seinen grauen Augen. Sie sah, wie er die Menge überflog, bis er Vivi Ann entdeckte; erst dann wurde sein Ausdruck etwas sanfter.
Vivi Ann stand aufrecht und mit gestrafften Schultern da, aber als sie Dallas sah, schien ihre Kraft sie zu verlassen. Nur Aurora und Noah, die sie fest in ihre Mitte genommen hatten, schienen zu verhindern, dass sie langsam zu Boden sank.
Dallas schlurfte mit klirrenden Fußfesseln zu Winona und nahm auf dem Stuhl neben ihr Platz. »Sie sieht …« Seine Stimme erstarb. »Und Noah … mein Gott!«
»Soll ich sie herholen, damit ihr euch sprechen könnt? Ich bin sicher –«
»Nein«, sagte er kaum hörbar. »Nicht so.«
Winona berührte seine Hand. Als er zusammenzuckte, wurde ihr bewusst, wie lange es her sein musste, dass jemand versucht hatte, ihn mit einer Berührung zu trösten.
Dann kam der Richter mit großen Schritten in den Saal und nahm am Richtertisch Platz. »Setzen Sie sich«, bat er, setzte seine Brille auf und überflog die vor ihm liegenden Unterlagen. »Dies ist im Fall Dallas Raintree die Anhörung der Verteidigung, die den Antrag gestellt hat, das Urteil aufzuheben und die Anklage abzuweisen.«
Sara Hamm erhob sich. »Das ist korrekt, Euer Ehren. Ich bin Sara Hamm und vertrete den Staat.«
»Was sagt die Verteidigung?«, fragte der Richter.
Winona ließ Dallas’ Hand los und stand auf. »Winona Grey für die Verteidigung von Dallas Raintree. Wie Sie aus der Eingabe ersehen können, gründet unser Antrag auf neuem Beweismaterial, insbesondere auf der Analyse der DNA -Spuren, die am Tatort gefunden wurden. Beim Prozess …«
Fast eine Stunde lang legte sie ihr Anliegen dar und brachte dabei sowohl moralische Gründe als auch Präzedenzfälle vor. Abschließend sagte sie: »Was unser Rechtssystem Dallas Raintree angetan hat, ist ein Zerrbild von Gerechtigkeit. Es ist Zeit, einen alten Fehler wiedergutzumachen und Mr Raintree freizusprechen.«
Im Saal brach Unruhe aus. Alle redeten gleichzeitig.
Der Richter forderte unter Einsatz seines Hammers Ruhe. Dann blickte er Sara Hamm an. »Was sagt die Staatsanwaltschaft, Miss Hamm?«
Die Staatsanwältin stand auf und wirkte im Gegensatz zu Winona vollkommen ruhig. »Euer Ehren, die Beweisführung in diesem Fall ist eindeutig und zwingend. Das Ergebnis der DNA -Analyse hat keinerlei Einfluss auf das Urteil und kann daher auch nicht zum Freispruch für den Angeklagten führen. Wäre dies der Fall, hätten wir uns dem Antrag der Verteidigung angeschlossen. Der Staat hat kein Interesse daran, Unschuldige in Haft zu lassen. Ganz im Gegenteil! Aber in diesem Fall haben die Geschworenen Dallas Raintree auf Grundlage aller Beweise und ohne begründeten Zweifel für schuldig befunden. Lassen Sie mich die einzelnen Beweise noch einmal durchgehen.«
Fast zwei Stunden lang schwang Sara Hamm ihre Beweiskette. Am Ende blickte sie zum Richter und sagte: »Sie sehen, Euer Ehren, 1996 wurde der richtige Mann verurteilt. Daher ersucht die Staatsanwaltschaft darum, das Urteil aufrechtzuerhalten.«
Winona hatte einen ausgetrockneten Mund. Es kostete sie
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