Das Geheimnis der Schwestern
Unglücklicherweise schmerzte dadurch alles nur noch mehr.
Ich konnte nicht mal mit ihm sprechen. Alles geschah so schnell. In der einen Minute saßen wir noch da und hörten uns die ganzen Lügen an, die das Miststück über meinen Vater verbreitete, und dann war es schon vorbei, und Dad wurde in Handschellen abgeführt.
Mom sagte: »Keine Angst, Noah, du wirst das überstehen, versprochen.« Aber wie soll ich vergessen, dass er ganz allein da drinsitzt?
Meine Mom hatte recht. Ich wollte, ich hätte das Ganze gar nicht erst losgetreten. Es tut einfach zu weh.
»Wie geht es ihr?«, fragte Winona.
»Du kennst doch Vivi. Sie ist noch stiller als sonst und geht kaum noch vor die Tür. Ich hab gehört, dass Noah wieder Ärger in der Schule hatte.« Aurora hörte auf, eine Vitrine zu dekorieren. »Aber sie werden es schon überstehen. Es ist doch erst eine Woche her. Irgendwann wird es ihr wieder bessergehen.«
Winona musste sich abwenden, so berührte sie der verständnisvolle Blick ihrer Schwester. Müßig strich sie durch den leeren Laden und tat so, als betrachtete sie die hübschen Waren: mundgeblasene Windspiele, Perlmuttohrringe, Buntglasbilder vom Hood Canal und den Bergen.
»Vielleicht können wir sie überreden, am Wochenende mit uns ins Outlaw zu gehen«, meinte Aurora und trat zu ihr.
So würde der Heilungsprozess wohl aussehen: Sie würden ihre alte Routine wiederaufnehmen, und irgendwann wäre alles vergessen. Zumindest fast. »Klar.«
Hinter ihnen ertönte das Messingglöckchen über der Tür. Aurora stieß Winona an, woraufhin diese sich umdrehte.
Da stand Mark, neben einer Vitrine mit Perlen aus dem Hood Canal. Er sah genauso aus wie immer, breite Schultern, schütteres Haar, Freizeitkleidung, und irgendwie überraschte das Winona. Bei den Umwälzungen in letzter Zeit hatte sie das Gefühl, sie alle müssten auch anders aussehen.
Sie sah ebenfalls Überraschung in seinem Blick und rührte sich nicht, lächelte nicht mal. Unbehagliches Schweigen erfüllte den winzigen Geschenkartikelladen, und dann kam Mark mit verlegenem Lächeln auf sie zu.
Sie ging ihm entgegen, zwang sich zu lächeln und sagte: »Hey, Mark.«
»Ich wollte dich anrufen. Du warst nie mehr am Strandhaus.«
»Ich will es vermieten.«
»Aha.« Er blickte kurz zu Aurora und dann wieder zu ihr. »Können wir reden?«
»Sicher.«
Sie bemerkte Auroras neugierigen Blick, zuckte mit den Schultern und folgte Mark zur Tür.
Es war ein prächtiger Tag. Sie schlenderten den Shore Drive hinunter zum Park und setzten sich an einen freien Picknicktisch. Normalerweise hätte Winona das Schweigen nervös mit Small Talk überbrückt, doch in den vergangenen Monaten hatte sie ein, zwei Dinge über Worte gelernt. Manchmal musste man warten, um die wirklich wichtigen zu hören.
»Ich war im Unrecht«, sagte er schließlich. »Ich meine immer noch, du hättest meine Mutter und mich vorwarnen sollen, aber ich hätte wissen müssen, dass du nicht anders handeln konntest.«
»Es hat aber zu nichts geführt.«
Anscheinend wusste er nichts darauf zu sagen, also schwieg er.
»Ich weiß deine Aufrichtigkeit zu schätzen«, sagte sie.
»Wenn es dich tröstet, so ist meine Mom immer noch sicher, dass er es war.«
»Aber ich bin mir sicher, dass er es nicht war. Allerdings weiß ich, dass deine Mom nicht gelogen hat. Bitte richte ihr das aus. Ich glaube nur, dass sie sich geirrt hat.«
»Das macht es zwar auch nicht besser, aber ich werde es ihr sagen.«
Winona nickte. Da sie nicht wusste, was sie noch sagen sollte, stand sie auf. »Na gut, ich –«
Er fasste sie an der Hand. »Ich vermisse dich. Meinst du, wir könnten noch mal von vorne anfangen?«
Das verblüffte Winona. Sie wandte sich zu ihm, blickte ihn direkt an und sah den Mann, den sie früher gemocht hatte, den sie hatte lieben wollen. Aber sie hatte ihn nie geliebt. Diese unerwartete Erkenntnis war irgendwie befreiend. Sie hatte wahre Liebe gesehen, und zwar in dem Blick, den Dallas und Vivi Ann tauschten, und jetzt wusste sie, dass sie genau das wollte. Nie wieder würde sie sich mit weniger zufriedengeben. »Nein«, sagte sie und bemühte sich, alle Schärfe aus ihrer Stimme zu nehmen. »Wir haben uns nicht geliebt«, fügte sie hinzu. »Aber wenn du möchtest, können wir Freunde bleiben.«
Er lächelte und wirkte sogar etwas erleichtert. »Freunde mit kleinen Extras?«
Winona lachte, weil es sich so gut anfühlte, begehrt zu werden, und so aufbauend, leiser zu sagen: »Ich
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