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Das Geheimnis der Schwestern

Das Geheimnis der Schwestern

Titel: Das Geheimnis der Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Hannah
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urzeitlicher Lebendigkeit. Alles hier war üppig grün und überdimensional. Tiefer und tiefer wand sich der Weg in den Wald und brachte sie in ihre Vergangenheit zurück.
    An den Wasserfällen waren sie ganz allein: Mutter und Sohn. Nicht wie früher: Mann und Frau. Das Donnern der herabstürzenden Wassermassen erfüllte die Luft genau wie der Wasserstaub, der eisig ihre Wangen benetzte und ihre Sicht trübte.
    Noah stand am Geländer und blickte zu den Wasserfällen.
    Vivi Ann legte einen Arm um ihn. »Er liebte das hier, genau wie du.«
    Noah antwortete nur mit einem kurzen Nicken. Sie wusste, er fürchtete, seine Stimme würde ihn im Stich lassen, wenn er etwas sagte.
    Sie streckte die Hand aus: Sofort glitzerten Wassertropfen wie Diamanten auf ihrer Haut. »Er hat das skukum lemenser genannt. Starke Medizin.« Sie berührte mit ihren nassen Fingerspitzen die Schläfe ihres Sohnes, als hätte sie in Weihwasser gefasst. »Ich hätte dir so viele Dinge über ihn und sein Volk erzählen sollen. Aber ich hab nie genug von ihm erfahren. Vielleicht könnten wir das gemeinsam angehen. Zum Beispiel ins Reservat fahren.«
    Er drehte sich zu ihr und rieb sich die Augen – sie wusste nicht, ob er Tränen oder Wassertropfen wegwischen wollte. Dann ging er zu dem schattigen Platz unter der riesigen Zeder.
    Vivi Ann hatte sich während der stundenlangen Fahrt darauf vorbereitet, doch jetzt, als es so weit war, bekam sie Angst. Sie folgte Noah und setzte sich neben ihn. Der Wasserfall klang wie eine Armee, die durch die Bäume donnerte. Genau wie früher. Von den Ästen tropfte das Wasser.
    D. R. liebt V. G. R. 21 . 8 . 92 . Sie starrte auf die geschnitzte Botschaft in der Baumrinde und erinnerte sich an jedes Detail dieses Tages. An das Mädchen, das an Liebe und Happy Ends glaubte. Sie war stark und selbstbewusst gewesen, weil sie den Mann, den sie liebte, geheiratet hatte, obwohl alle Welt gegen ihn war. Dieses Mädchen hätte genau wie ihr Sohn für den DNA -Test gekämpft und den Mut gehabt, an die Wahrheit zu glauben. »Du hattest recht, und ich hatte unrecht, Noah. Vor seinem eigenen Herzen kann man nicht weglaufen. Das war mein Fehler.«
    »Ich weiß, warum du dagegen warst, dass Winona und ich die ganze Sache wieder aufrollen. Ich verstehe es jetzt.« Noah lehnte sich gegen den Baum. »Er kommt nie wieder raus, oder?«
    Vivi Ann legte ihm die Hand auf die Wange. Im Gesicht ihres Sohnes sah sie ihren Mann. »Nein, Noah. Er kommt nie wieder frei.«

Neunundzwanzig
    Die meiste Zeit ihres Lebens war sich Winona ihrer intellektuellen Überlegenheit sicher gewesen. Auch wenn sie Gewichtsprobleme hatte oder Angst, nie einen Mann zu finden, der sie wirklich liebte, und auch wenn sie sich vergeblich um die Anerkennung ihres Vaters bemühte, wusste sie seit frühester Kindheit, dass sie in ihrer Umgebung die Klügste war.
    Doch diese Gewissheit war in letzter Zeit, neben vielem anderen, geschwunden. Jetzt überdachte sie zwanghaft jede ihrer Handlungen, stellte sie infrage, grübelte, was sie übersehen, wieso sie alles vermasselt hatte. Es setzte ihr zu, dass der Richter an jenem Tag vor Gericht von ihren Argumenten nicht mal genügend berührt worden war, um eine Revision des Verfahrens in Betracht zu ziehen.
    Ihr ganzes Leben lang hatte man ihr nachgesagt, sie würde wie eine Dampfwalze unbeirrt auf ein einmal gesetztes Ziel zusteuern.
    Aber in diesem Jahr hatte sie etwas über Vorsicht gelernt. Und Demut. Sogar Angst. In manchen Nächten fragte sie sich, ob dies ihr neues Leben war; ob von nun an Vorsicht und Angst ihre ständigen Begleiter sein sollten. Wie sollte sie damit zurechtkommen, wenn sie ihre alte Sicherheit nicht mehr wiederfand?
    Jetzt saß sie in ihrem Wagen und starrte durch die regennasse Windschutzscheibe auf das Bezirksgericht. Der einzige Farbfleck im allgemeinen Grau war die amerikanische Flagge, die schlaff am Mast hing. Alles sah verschwommen aus im Dunst, der von der Straße aufstieg. Bei diesem Wetter wirkten selbst die Herbstfarben matt und trist.
    Winona griff nach ihrer Aktentasche. Sie umklammerte den Ledergriff, stieg aus dem Wagen. Mit jedem Schritt hatte sie stärker das Gefühl, in feindliches Gebiet vorzudringen. Sie versuchte, etwas von ihrem einstigen Selbstbewusstsein zu aktivieren, doch es war so flüchtig wie der Nebel um sie herum.
    Am Empfang sagte sie: »Ich bin Winona Grey und möchte zu Sara Hamm. Wir haben um zehn Uhr einen Termin.«
    Die Empfangsdame nickte und unterzog Winona

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