Das Geheimnis der Schwestern
glaube nicht.«
Winona starrte auf den neuesten Fall über Unzulässigkeit von Haaranalysen vor Gericht und fragte sich, ob das für eine Berufung reichen würde.
Da summte die Gegensprechanlage.
»Winona? Vivi Ann möchte zu dir.«
Winona seufzte. »Schicken Sie sie herein.« Sie stand auf, ging zum Fenster und blickte hinaus. Der Garten spiegelte den Wandel der Jahreszeiten. Intensive Herbsttöne hatten die hellen Sommerfarben abgelöst. Die Petunien wirkten welk und ausgedünnt, und die Rosen waren wild in die Höhe geschossen. Der Sommer war vorbei, und sie hatte es nicht mal bemerkt.
Eigentlich hatte sie seit ihrer Niederlage vor Gericht gar nichts mehr mitbekommen. Ihre Besessenheit hatte nicht nachgelassen, sondern eher noch zugenommen. Ihr wollte einfach nicht das Bild von Dallas in seiner Zelle aus dem Kopf. Ihre allwöchentlichen Besuche trugen ein Übriges dazu bei. Dallas hatte wirklich alle Hoffnung aufgegeben – wenn er sich überhaupt je erlaubt hatte zu hoffen.
»Hey, Win.«
»Ironie des Schicksals, dass mein Spitzname ›Win‹ ist, findest du nicht auch?«, sagte sie, ohne ihre Schwester anzusehen. Sie hätte ihr Büro aufräumen sollen. Jetzt sah Vivi Ann die vielen aufgeschlagenen Akten und die Berge mit Haftzetteln versehener Notizen.
»Ist das alles für Dallas?«, wollte sie wissen.
Winona nickte. Lügen, Ausreden und Beschönigungen hatte sie aufgegeben. »Gerichtsprotokolle, Polizeiberichte, Zeugenaussagen.« Sie wusste, dass sie den Mund halten sollte, aber das war das Problem bei fixen Ideen: Man konnte sich einfach nicht mehr beherrschen. »Das ist alles. Ich hab es so oft gelesen, dass ich schon nichts mehr sehe. Es wimmelt nur so von Fehlern: das Tattoo, die unzureichenden Ermittlungen, die überstürzte Urteilsfindung, Roys absurd schlechte Verteidigung, die fehlende DNA -Analyse – aber nichts davon hat juristische Relevanz. Obwohl es wirklich von ausschlaggebender Bedeutung ist.«
»Ich weiß.«
»Du hast es die ganze Zeit gewusst.«
»Ich hab ihn einfach nicht aufgegeben«, sagte Vivi Ann leise. »Jahrelang habe ich an einen glücklichen Ausgang geglaubt.«
Da endlich sah Winona ihre Schwester an. »Ich habe versagt. Bei ihm, bei Noah, bei dir.«
»Du hast nicht versagt«, entgegnete Vivi Ann. »Manchmal können wir die, die wir lieben, einfach nicht retten.«
Winona wusste nicht, wie sie mit einer solchen Realität leben sollte; sie wusste nur, dass ihr nichts anderes übrigblieb. »Wie geht es Noah?«
»Nicht gut. Er schwänzt ständig die Schule. Letzte Woche hat er seinem Naturkundelehrer den Mittelfinger gezeigt.«
»Mr Parker?«
»Wem sonst?«
»Klar. Ich erinnere mich, dass Aurora das auch mal gemacht hat.«
»Ich werde mit ihm reden.«
»Was willst du ihm denn sagen?«
»Dass ich nicht aufgebe.«
»Meinst du, das ist es, was er braucht?«
»Was würdest du denn sagen? Gib auf? Leb dein Leben und lass deinen Dad in der Zelle verrotten?« Kaum hatte Winona das ausgesprochen, wusste sie, dass sie zu weit gegangen war. »Tut mir leid, ich hab’s nicht so gemeint.«
»In letzter Zeit tut dir alles leid.« Vivi Ann seufzte schwer. »Meinst du nicht, ich würde liebend gerne die Uhr zurückdrehen und wieder mit ihm zusammen sein?«
»Doch, ich weiß.«
»Einerseits bin ich froh, nicht im Gericht mit ihm geredet zu haben. Wie könnte er mir je verzeihen?«
»Er liebt dich«, sagte Winona.
Vivi Ann zuckte zusammen, steckte den Schlag aber wie ein Profiboxer weg. »Er ist da drinnen, und du, Noah und ich sind hier draußen. So ist es eben. Und so wird es bleiben.«
Winona wusste, was jetzt kommen würde, und schüttelte den Kopf, als könnte sie damit die nächsten Worte abwehren.
»Ich bin gekommen, um dir das zu sagen, was du einmal zu mir gesagt hast: Es ist Zeit, loszulassen. Der DNA -Test war eine gute Idee. Du hast es versucht und bist gescheitert. Wir beide wissen, dass es für Dallas eigentlich schon vor Jahren vorbei war. Es ist ganz gleich, wessen DNA am Tatort gefunden wurde.«
»Ich kann nicht …«, setzte Winona an, verstummte jedoch plötzlich. Sie sah Vivi Ann an. »Was hast du da gerade gesagt?«
»Es ist Zeit, loszulassen. Es ist ganz gleich, wessen DNA es war.«
»Ach, du meine Zeit«, sagte Winona und eilte zu ihrem Schreibtisch, wo sie ihre Unterlagen durchforstete, um den Bericht des Testlabors zu finden. Als sie die Akte schließlich fand, nahm sie Vivi Ann in die Arme und gab ihr einen dicken Kuss. »Du bist ein
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