Das Geheimnis der Schwestern
Genie!«
»Was –«
»Ich muss los. Danke für deinen Besuch. Sag Noah, ich besuche euch dieses Wochenende.«
»Hast du mir überhaupt zugehört? Ich versuche, dir zu helfen.«
»Und ich versuche, dir zu helfen«, erwiderte Winona und rannte aus dem Büro.
»Gus hat mir erzählt, Noah wäre zu nichts zu gebrauchen«, sagte der Vater an einem kühlen Septembermorgen zu Vivi Ann, als sie gemeinsam auf der Veranda standen. Gerade ging die Sonne auf und ließ das Metalldach des Reitstalls silbern aufblitzen.
»Er hat noch Probleme, alles zu verarbeiten. Er hat wirklich geglaubt, Winona würde Dallas freibekommen.«
»Ach, Winona«, sagte ihr Dad, und Vivi Ann hörte den bitteren Unterton in seiner Stimme. War der eigentlich schon immer da gewesen, wenn er von seiner ältesten Tochter sprach? Je mehr Vivi Ann von ihm mitbekam, desto mehr zog sie sich von ihm zurück. Manchmal vergingen Tage, ohne dass sie miteinander redeten. Sie war nicht wütend auf ihn, eher im Gegenteil. Aber nun, da sie seine Verbitterung gesehen hatte, war es schwer, darüber hinwegzugehen.
Als sie aufblickte, sah sie Noah aus ihrem Cottage kommen. Er strebte mit seinem lässigen Gang, der sie immer an Dallas erinnerte, den Hügel hinauf. Ihr Sohn hatte einen Wachstumsschub hinter sich. Seit seinem fünfzehnten Geburtstag konnte er auf sie herabsehen – wenn er sie denn überhaupt ansah. Oben auf dem Hügel angekommen, ging er zur Koppel und stützte sich auf den Zaun.
Renegade wandte den Kopf zu ihm und wieherte, rührte sich aber nicht, obwohl Noah ihm eine Karotte hinhielt.
»Ich habe noch nie gesehen, dass ein Pferd etwas zu essen ablehnt«, bemerkte ihr Dad.
»Ein Herz kann gebrochen werden«, erwiderte Vivi Ann. Mitleid mit ihrem Sohn überkam sie, weil sie wusste, was er jetzt brauchte … und sie es ihm nicht geben konnte. Keine Mutter sollte sich so hilflos gegenüber ihrem Kind fühlen. Sie stieß sich von der Wand ab und ging zur Treppe.
Es war Zeit, Noah das zu sagen, was sie auch Winona gesagt hatte.
»Ich nehme mir einen Tag frei, Dad.«
»Und dein Reitunterricht?«
»Den sage ich ab. Es sind ohnehin nur ein paar Stunden.« Ohne auf seine Erlaubnis zu warten, murmelte sie einen Abschiedsgruß und ging durch das taunasse Gras den Hügel hinauf. Als sie Noah erreicht hatte, steckte sie sich ihre Arbeitshandschuhe in den Gürtel.
»Wie sollen wir ihm begreiflich machen, dass Dad nicht zurückkommt?«
Vivi Ann strich ihrem Sohn über das seidige schwarze Haar. »Ich glaube, wenn Renegade das wüsste, würde er sich einfach hinlegen und sterben.«
»Ich kann es ihm nachfühlen.«
Vivi Ann stand da mit ihrem Sohn und starrte auf den Rappen. Die weißen Narben waren mit den Jahren verblasst und nur noch zu erkennen, wenn man genau hinsah. So ist das mit Narben, dachte sie: Sie verblassen, verschwinden aber nie ganz. »Hol deine Jacke. Wir fahren.«
»Aber die Schule fängt doch erst in anderthalb Stunden an.«
»Ich weiß. Hol deine Jacke.«
»Aber –«
»Ich melde dich für heute ab. Willst du mir wirklich widersprechen?«
»Auf keinen Fall.«
Nach einer Viertelstunde fuhren sie dann los.
»Das ist echt cool, Mom«, sagte Noah, als sie an der Highschool vorbeikamen.
Die nächsten zweieinhalb Stunden sprachen sie nur über Belangloses: die Ranch, eine Stute, die kurz vor dem Fohlen stand, Noahs Referat über den Bürgerkrieg.
Erst als Vivi Ann vom Highway abfuhr und auf die langgezogene Straße hinauf zum Olympic National Park einbog, schien Noah Notiz von seiner Umgebung zu nehmen. Er richtete sich auf und blickte sich um. »Das ist doch die Strecke nach Sol Duc.«
»Ja, genau.«
Noah wandte sich zu ihr. »Das will ich nicht, Mom.«
»Ich weiß. Ich bin auch davor geflüchtet, aber manchen Dingen muss man einfach ins Auge blicken.«
Als sie an der Lodge ankamen, war es gerade kurz nach neun. An diesem Morgen Mitte September war der Parkplatz fast leer.
Sie parkte den Wagen, stieg aus und zog ihre Windjacke an. Zwar schien momentan die Sonne, doch sie wollte tief in den Nationalpark, wo das Wetter jederzeit umschlagen konnte.
Noah rührte sich nicht vom Wagen, sondern sah zu, wie sie auf seine Seite kam. »Ich kann da nicht hoch.«
Vivi Ann fasste ihn bei der Hand – wie sie es schon längst hätte tun sollen. »Komm.« Sie zog an seiner Hand und spürte, wie er sich einen winzigen Augenblick widersetzte und dann nachgab.
Sie wanderten den von riesigen Zedern gesäumten Weg hinauf in eine Welt
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