Das Geheimnis der Schwestern
einer Reihe von Sicherheitsmaßnahmen, die mittlerweile selbst im entlegensten Bezirksgericht Normalität waren. Sie gab ihr einen Besucherausweis, schickte sie durch den Metalldetektor, ließ sich zweimal den Ausweis zeigen und begleitete sie zum Büro der Staatsanwältin.
Es wirkte kühl und sachlich – keine Pflanzen in hübschen Übertöpfen, keine Familienfotos auf dem Schreibtisch. Ein großes Fenster gab den Blick auf den Parkplatz frei.
Aber Winonas Aufmerksamkeit galt nur der Frau hinter dem Schreibtisch.
Die Jahre hatten Sara Hamm kaum etwas anhaben können. Sie war groß und dünn und wirkte so drahtig wie eine Langstreckenläuferin. Winona schätzte, dass sie unter Stress eher zu Laufschuhen als zu Süßigkeiten griff.
»Miss Grey«, sagte sie und schob ihren Stuhl vom Schreibtisch zurück. Er rollte geräuschvoll über den Hartholzboden. »Das ist aber eine Überraschung! Ich hätte nicht erwartet, noch mal von Ihnen zu hören.«
Winona setzte sich. »Ich danke Ihnen, dass Sie mich so kurzfristig empfangen, obwohl ich bei unserer ersten Begegnung kaum einen guten Eindruck auf Sie gemacht haben dürfte.«
Diese Äußerung schien Sara zu erstaunen, denn ihre perfekt gewölbten Augenbrauen zogen sich leicht zusammen. »Im Gegenteil. Ich fand Ihre Leidenschaft sehr beeindruckend, auch wenn sie in diesem Fall fehlgeleitet war. Sie sind seine Schwägerin, da war nichts anderes zu erwarten. Aber dürfte ich Sie fragen, warum Sie den Fall nicht von Anfang an übernommen haben, da er Ihnen offensichtlich so am Herzen liegt?«
»Kurz gesagt hatte ich damals kaum Erfahrungen im Straf recht.«
»Und jetzt sind Sie erfahrener?«
Kein Wunder, dass diese Frau so erfolgreich war: Sie sah alles. »Nein«, erwiderte Winona. »Welchen Eindruck hatten Sie damals von der Verteidigung?«
»Solide.«
»Wohl kaum, und wir beide wissen das.«
»Wollen Sie den Verteidiger deswegen belangen? Das dürfte schwierig werden, da er im Grunde nur nicht während des Prozesses einschlafen darf. Und selbst das ist noch nicht mal sicher.«
»Ich weiß«, seufzte Winona. »Glauben Sie mir, ich bin jedem möglichen Revisionsgrund nachgegangen.«
»Und die DNA war Ihre aussichtsreichste Möglichkeit.«
Winona war sich nicht sicher, ob das als Frage gemeint war. Möglicherweise. Jedenfalls war nun der Zeitpunkt gekommen, ihre Karten offenzulegen. Sie wappnete sich innerlich und sagte: »Ich glaube nicht. Dass es die beste Chance war, meine ich.«
Wieder zuckten die Augenbrauen kaum merklich. »Ach, nicht?«
Winona versuchte, so unauffällig wie möglich tief Luft zu holen. Bitte lass mich das Richtige tun, auf die richtige Art und Weise. Als sie den Anwälten des Innocence Project s ihre neue Information zukommen ließ, hatten sie ihr geraten, die Sache vorsichtig anzugehen. Falls sie Sara Hamm überzeugen konnte – und zwar restlos –, wäre ein gemeinsamer Antrag die beste Möglichkeit, Dallas’ Urteil aufzuheben. Jedes andere Vorgehen würde Widerspruch provozieren, und Winona wollte keinen neuen Kampf gegen die Staatsanwaltschaft, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ. »Ich möchte Ihnen zunächst darlegen, was ich glaube. Roy war im besten Fall ein nutzloser Verteidiger. Er hat nie jemanden angeheuert, der den Tatort besichtigte oder Nachforschungen betrieb. Sonst hätte er die Unstimmigkeit in der Zeugenaussage von Myrtle Michaelian bemerkt. Sie erklärte, sie hätte an jenem Abend Dallas’ Tätowierung gesehen, aber das kann nicht sein. Denn sein Tattoo ist am linken Arm –«
»Das haben Sie alles bereits dargelegt, Miss Grey. Ich muss es nicht noch mal hören.«
»Ich weiß. Ich möchte nur, dass Sie es im Hinterkopf behalten. Zusätzlich zu dem Fakt, dass die DNA -Spuren nicht von Dallas stammten. Wir beide wissen, dass die Sache mit den Haarproben wissenschaftlich nicht haltbar ist. In den vergangenen zehn Jahren gab es unzählige Präzedenzfälle dazu. Wenn es zu einem neuen Prozess kommt, könnte ich es mit Sicherheit ausschließen lassen.«
»Zu einem neuen Prozess? Ist mir irgendetwas entgangen? Das alles ist doch schon geklärt und erledigt. Das Gericht hat das Urteil bestätigt.«
Winona griff in ihre Aktentasche und holte einen Ordner heraus. Sie schob ihn zu Sara hinüber. »Aber das hier ist neu.«
Sara schlug den Ordner auf und las das oberste Dokument. »Ein zweiter Antrag, das Urteil aufzuheben und den Fall abzuweisen? Und Sie haben dieses Büro mit aufgeführt? Meinen Sie etwa, ich würde
Weitere Kostenlose Bücher