Das Geheimnis der Schwestern
mich diesem Antrag anschließen? Sie träumen wohl, Miss Grey.«
»Lesen Sie weiter«, entgegnete Winona. »Bitte.« Ihre letzte und beste Chance – vielleicht ihre einzige – bestand darin, diese Frau zu überzeugen. Wenn die Staatsanwaltschaft sich einverstanden erklärte, dass das Urteil aufgehoben und der Fall abgewiesen würde, dann würde das Gericht dem stattgeben.
Sara blätterte die erste Seite um und blickte abrupt auf. »Seit wann haben Sie diese Information?«
Winona wusste genau, wovon die Staatsanwältin sprach. Es war das Testergebnis, auf das sie fast einen Monat gewartet hatte. »Seit gestern.«
»O mein Gott!«, sagte Sara.
»Mir fiel ein, dass ich nur hatte testen lassen, ob die DNA -Spuren mit denen meines Klienten übereinstimmen. Was, wie Sie wissen, nicht der Fall ist. Ich war so unerfahren, dass ich meinte, mit diesem Ergebnis einen Freispruch erwirken zu können. Vor etwa einem Monat dann unterhielt ich mich mit meiner Schwester. Seiner Frau. Wie auch immer, sie machte eine Bemerkung über die DNA , und da wurde mir klar, dass ich nie hatte prüfen lassen, zu wem die DNA gehörte. Also schickte ich die Spuren zur nationalen Datenbank, und es ergab sich, dass sie zu einem Mann namens Gary Kirschner passten, der gegenwärtig eine neunjährige Haftstrafe im Spring-Creek-Gefängnis in Seward absitzt. Wegen Vergewaltigung. Als wir erst einmal den Namen hatten, überprüften wir noch einmal die Waffe. Wegen der nicht identifizierten Fingerabdrücke, verstehen Sie?«
»Natürlich«, sagte Sara mit gerunzelter Stirn.
»Es stellte sich heraus, dass die Fingerabdrücke ebenfalls von Gary Kirschner stammten.«
»Warum hat man seine Fingerabdrücke 1996 noch nicht gefunden?«
»Weil er bis dahin noch nicht erfasst war. Er war ein Vagabund. Ein Drogensüchtiger, der auf dem Weg nach Norden durch ein paar Städte in der Umgebung kam. Und bevor Sie fragen: Dallas Raintree hat Gary Kirschner nie kennengelernt.«
Sara starrte auf die Dokumente und las sie noch einmal durch. »Ich muss ein paar Nachforschungen anstellen. Wir wollen doch keine übereilte Entscheidung treffen. Möglicherweise dauert das eine Weile.«
Winona stand auf. »Vielen Dank, Miss Hamm.«
Sara nickte nur und las weiter.
Winona verließ allein das Büro.
An diesem Wochenende gibt’s die große Halloween-Party auf Water’s Edge. Yippee! Ich hoffe, Sie kriegen meinen Sarkasmus mit, Mrs I. Dabei lesen Sie das Tagebuch doch gar nicht mehr. Es ist schon komisch. Ich schreibe immer noch für Sie. Warum eigentlich? Ich schätze, dies ist auch so eine Ihrer großen Lebensfragen. Vielleicht werde ich sie Ihnen eines Tages stellen.
Jedenfalls kam ich direkt nach der Schule nach Hause, um zu helfen. Andere wären vielleicht sauer darüber gewesen, aber diese anderen haben auch Freunde. Wenn man keine Freunde hat, ist es vollkommen in Ordnung, nach der Schule direkt nach Hause zu gehen. Es gibt nichts Schlimmeres als die zehn Minuten nach dem Klingeln der Schulglocke. Dann bilden sich die Grüppchen, und man ist sehr einsam, wenn man allein dasteht.
Aber mich interessiert nur Cissy. Heute hat sie mich fast angelächelt, mir ist beinahe das Herz stehen geblieben. Ich weiß, es ist Irrsinn, aber manchmal denke ich, sie liebt mich immer noch.
Als ob das noch eine Bedeutung hätte: Schließlich hat sie zu viel Angst vor ihrem dämlichen Vater. Aber wen interessiert das überhaupt?
Als es an der Tür klingelte, telefonierte Winona gerade mit Luke. »Oh, großartig. Da kommt Besuch«, sagte sie sarkastisch. Sie hatte gerade darüber lamentiert, wie lange die Staatsanwältin für ihre Entscheidung brauchte. Da er der Einzige war, mit dem sie darüber reden konnte, übertrieb sie es manchmal. Das war kaum überraschend. Überraschend war höchstens, dass er sie trotzdem weiterhin anrief. Den ganzen September und Oktober saß sie fast jeden Samstagabend auf der Veranda oder vor ihrem Kamin und tauschte sich mit ihm über ihr Leben aus. Sie hatten schnell wieder zu ihrem alten, ungezwungenen Ton zurückgefunden.
»Hab Geduld«, bat Luke, wie schon seit Wochen. »Es ist erst Oktober. Sie wird schon noch anrufen. Ganz bestimmt.«
»Das Warten bringt mich um«, entgegnete sie. »Tatsächlich nehme ich zum ersten Mal seit der sechsten Klasse ab. Wenn ich Glück habe, werde ich noch hübsch, während Dallas in seiner Zelle verrottet.«
»Du warst schon immer hübsch, Win.«
Wieder klingelte es. »Klar«, murmelte sie. »Deshalb hast du
Weitere Kostenlose Bücher