Das Geheimnis der Schwestern
und hielt. Sie hatten gerade Belfair hinter sich gelassen und standen an einer Biegung des Hood Canals, wo die Ebbe eine große, von Rinnsalen durchzogene Sandfläche freigelegt hatte. Anleger ragten auf den wasserlosen Grund, Boote lagen zur Seite gekippt auf dem Sand und warteten darauf, von der nächsten Flut wieder angehoben zu werden.
»Du hast ja keine Ahnung, wie mein Leben aussah, bevor ich dich traf.«
Allein der Hinweis auf diese andere Welt erschreckte sie; eigentlich hatte sie die ganze Zeit davon gewusst, aber in ihrer Naivität hatte sie sich ihn nur als verletztes, misshandeltes Kind vorgestellt. Schutzlos. Jetzt wurde ihr bewusst, dass er schon lange kein Kind mehr war, sondern ein Mann, der ihr manchmal fremd vorkam. Das war neu. Unwillkürlich musste sie daran denken, wie er bei Cat eine Schlägerei angezettelt hatte. Dann dachte sie an seinen stählernen Blick, als es im Outlaw fast Streit gegeben hatte. Und dann an die Vorstrafen, die er erwähnt hatte. Damals war ihr Autodiebstahl fast kühn und romantisch erschienen, aber jetzt kamen ihr Bedenken. »Ist gut, aber ich weiß, wie es jetzt ist. Du brauchst keine geladene Waffe mehr in deinem Wagen. Herrgott, Dal, wenn ein Kind sie gefunden hätte …«
»Ich schließe den Wagen immer ab.«
»Du machst mir Angst.«
»Ich bin, wer ich bin, Vivi Ann.«
»Nein. Das galt vielleicht früher. Aber jetzt bist du ein anderer Mensch. Schaff sie weg. Versprich mir das.«
Er atmete geräuschvoll aus; da erkannte sie, dass er die ganze Zeit die Luft angehalten hatte. Er streckte die Hand aus und schloss das Handschuhfach. »Du wirst die Waffe nie wieder sehen.«
Dreizehn
In den zwei Jahren seit Noahs Geburt war der Klatsch um Vivi Ann und Dallas fast verstummt. Natürlich nicht ganz, denn dazu war er einfach zu unterhaltsam. Mittlerweile jedoch hatten andere Liebespaare mit ihren Verfehlungen für neuen Gesprächsstoff gesorgt. Die Einzigen, die noch an den alten Geschichten festhalten wollten, waren Winona und Dad, aber Vivi Ann hatte Verständnis dafür. Außerdem wusste sie, dass irgendwann alles wirklich vergessen sein würde.
An diesem Tag stand sie im Abendlicht eines tiefvioletten Himmels am Koppelzaun und sah zu, wie Kinder auf der alljährlichen Halloween-Party auf Water’s Edge hinter einem eingefetteten Ferkel herjagten. Sie hatte Noah auf dem Arm, der dem Anlass entsprechend als orangefarbener Kürbis verkleidet war. Aurora stand links von ihr, Winona rechts. Als Pirat beziehungsweise als Hexe verkleidet.
»Weißt du noch, wie wir beide das erste Mal hinter so einem Ferkel hergerannt sind, Winona?«, fragte Aurora. »Die restlichen Kinder waren eine Meile hinter uns.«
»Die Zuschauer haben sicher gestaunt und zueinander gesagt: Wow, das dicke Mädchen hat wirklich Talent zur Ferkeljagd«, erwiderte Winona.
»Oh, oh«, sagte Aurora. »Da badet aber heute jemand in Selbstmitleid. Ich hab geglaubt, ich wäre jetzt mal an der Reihe.«
»Das glaubst du ständig«, entgegnete Winona und trank einen Schluck Bier.
»Hast du Rick und Jane in letzter Zeit mal erlebt? Die beiden erinnern mich immer mehr an die Kinder des Zorns. Und Richard verliert so schnell seine Haare, dass ich zum Essen den Staubsauger mitbringen muss. Kannst du das überbieten, Miss Staranwältin?«
Winona wandte sich zu ihr. »Glaubst du wirklich, es ist besser, ein dicker, kinderloser Single zu sein?«
»Ach … Ich kann nur noch mal auf meinen Mann und meine Kinder zeigen. Schließlich bin ich nicht mit diesem heißen Tattoo-Boy verheiratet.«
Vivi Ann lachte. »Er ist wirklich heiß. Aber du bist nicht dick, Winona. Du hast nur starke Knochen.«
»Lügen, Lügen, nichts als Lügen«, murmelte Winona. »Das neue Familienmotto.«
Vivi Ann bemerkte ihren gereizten Unterton und wusste, dass Winona mal wieder einen schlechten Tag hatte, an dem nichts sie aufheitern konnte.
»Apropos«, sagte Vivi Ann, »ich will mal nach meinem Mann suchen. Dieses Nixenkostüm juckt wie verrückt, und für den kleinen Kerl hier ist es höchste Zeit, schlafen zu gehen.«
Sie verabschiedete sich und drängte sich mit Noah durch die angeregt plaudernden Gäste auf dem Parkplatz. Die Gespräche, die sie mitbekam, waren die übliche Mischung aus Informationsaustausch und Tratsch: wer schlief mit wem, wer konnte seine Hypothek nicht bezahlen, und wessen Kind war auf die schiefe Bahn geraten. Für Vivi Ann allerdings zählte nur, dass sie und Dallas nicht mehr Gesprächsthema Nummer
Weitere Kostenlose Bücher