Das Geheimnis der Schwestern
lag und schlief.
Liebe und Angst, Trauer und Hoffnung überwältigten Vivi Ann. Freude. Und Liebe, vor allem Liebe. Sie meinte schon, nicht noch mehr empfinden zu können, so übervoll fühlte sie sich, da blickte sie zu Dallas.
»Mein Großvater hieß Noah«, sagte er leise.
»Noah Grey Raintree«, erwiderte sie und nickte.
»Ich wusste nicht, dass es sich so anfühlen würde«, flüsterte Dallas. »Wenn ihm irgendwas passiert …« Er verstummte, und auch Vivi Ann beendete den Satz nicht für ihn.
Es gab nichts zu sagen. Sie griff nach der Hand ihres Mannes und hoffte nur, mit ihm zusammen die Hoffnung wiederzufinden, die sie einst für selbstverständlich gehalten hatte.
Am fünfzehnten Juli trudelten verschiedene Leute ungebeten auf Water’s Edge ein. Jeder kam mit einem anderen Vorhaben. Die Jugendgruppe mistete die Pferdeboxen aus; die Pfadfinder halfen Henry beim Füttern der Bullen; Vivi Anns Freundinnen übernahmen den Reitunterricht. In der Woche zuvor war bekanntgeworden, dass Noah endlich nach Hause konnte. Daher wollte die ganze Stadt Vivi Ann helfen.
Vivi Ann war sprachlos angesichts dieser Hilfsbereitschaft und dankbar, dass ihre Gebete erhört worden waren. Die letzten sechs Wochen hatten Dallas und sie getrennt verbracht, weil immer einer im Krankenhaus sein musste. Obwohl sie niemandem erzählt hatte, wie schwierig das war, hatten es offenbar alle gewusst.
»Es ist Zeit«, sagte Aurora und trat zu ihr.
»Bist du bereit?«, fragte Winona, die ihr direkt folgte.
Vivi Ann umarmte sie beide fest. Sie war so aufgewühlt, dass sie befürchtete, gleich weinen zu müssen. »Bitte dankt allen für ihre Hilfe heute, ja?«
»Natürlich«, sagte Aurora.
In diesem Augenblick tauchte Dallas’ grauer Ford hinter dem Reitstall auf und fuhr langsam auf sie zu. Es war ein altes, behäbiges Modell, das schon bessere Tage gesehen hatte, aber noch lief es tadellos. Dallas hielt vor ihnen und stellte den Motor ab.
Vivi Ann dankte ihren Schwestern noch einmal und zog die schwere Wagentür auf. Sie quietschte und ruckte und knallte dann hinter ihr zu. Der hellblaue Babysitz auf der geriffelten Sitzbank wirkte seltsam fehl am Platz.
»Sind Sie bereit, Mrs Raintree?«, fragte Dallas und schenkte ihr das erste echte Lächeln seit über einem Monat.
»Ja, bereit.«
In den nächsten zwei Stunden, in denen sie hinter einem dichten Strom aus Kombis und Wohnmobilen über den gewundenen, von Bäumen gesäumten Highway fuhren, unterhielten sie sich über alltägliche Dinge – das neue Schulpferd, mit dem die Kinder Schwierigkeiten hatten, Clems entzündete Gelenke, die neuen Preise für das nächste Barrel-Race-Rodeo –, doch als sie schließlich beim Krankenhaus ankamen, griff Vivi Ann über den Babysitz nach seiner Hand, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte.
»Mir geht’s auch so«, bemerkte er, dann gingen sie zusammen über den Parkplatz in die strahlend weiße Eingangshalle des größten Krankenhauses im Pierce County.
In den vergangenen Wochen hatten sie sich mit etlichen Krankenschwestern, Pflegern und ehrenamtlichen Helfern angefreundet, so dass sie auf dem Weg zur Kinderstation einige Male anhielten, um sich zu unterhalten.
Auf der Säuglingsstation wartete Noah, dick verpackt in eine blaue Thermodecke und mit einem winzigen Mützchen auf dem wüsten dunklen Haarschopf.
Vivi Ann nahm ihn auf den Arm. »Hey, kleiner Mann. Bist du bereit, nach Hause zu kommen?«
Dallas legte seinen Arm um Vivi Ann und zog sie an sich. Schweigend blickten sie auf ihren Sohn. Dann brachten sie ihn aus dem Krankenhaus.
Es dauerte so absurd lange, bis Vivi Ann ihn sicher im Bab ysitz angeschnallt hatte, dass sie schließlich nur noch hilflos lachte.
Den gesamten Heimweg plauderte und scherzte sie mit ihm in einem hohen, gurrenden Tonfall, der nicht im Geringsten ihrer sonstigen Stimme ähnelte. Als Reaktion darauf spuckte er sich voll.
»Merke«, sagte sie lachend, »immer eine Spucktüte dabeihaben.« Auf der Suche nach einem Papiertaschentuch oder einem Bündel Restaurantservietten öffnete sie das Handschuhfach.
Sie hörte, wie Dallas scharf »Nicht!« rief, aber da war es schon zu spät.
Das Handschuhfach klappte auf und gab etwas preis, was er hatte verbergen wollen.
Eine Waffe.
Sie streckte schon die Hand danach aus, doch als er sagte: »Sie ist geladen«, zuckte sie zurück, als hätte sie sich verbrannt.
»Warum zum Teufel hast du eine geladene Waffe im Wagen?«
Er fuhr auf den Seitenstreifen
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