Das Geheimnis der Schwestern
wünschte –« Sie keuchte überrascht auf, als ein Krampf sie erfasste. Er war heftig. Sie war kaum wieder zu Atem gekommen, als der nächste kam, der noch schlimmer war.
»Alles in Ordnung?«, fragte Aurora und lehnte sich vor.
»Nein«, stöhnte Vivi Ann auf. »Es ist zu früh.«
Vivi Ann hatte nie zu den Menschen gehört, die sich Sorgen machten, was alles Schlimmes passieren konnte. Wenn sie jemanden sagen hörte: Das Leben kann sich jeden Moment grundlegend ändern , dann hatte sie gelächelt und gedacht: Ja. Es kann immer noch besser werden. Wenn ihr jedoch ab und an düstere Gedanken kamen, schob sie sie einfach beiseite und konzentrierte sich auf etwas anderes. Sie hatte früh gelernt, dass Optimismus eine Frage der Entscheidung war. Wenn man sie nach ihrer positiven Lebenseinstellung fragte, antwortete sie immer, dass guten Menschen nur Gutes widerfahre. Und daran glaubte sie.
Jetzt wurde ihr klar, warum die Leute bei dieser Antwort oft die Stirn gerunzelt hatten. Sie wussten bereits, was sie jetzt erst lernte: Optimismus war nicht nur naiv, sondern oft auch grausam.
Schlimme Dinge geschahen, auch wenn man alles richtig gemacht hatte. Man konnte heiraten, wenn man sich verliebt hatte, konnte in einer Liebesnacht ein Kind empfangen, alles aufgeben, was dem Baby schaden konnte, und trotzdem eine Frühgeburt haben.
»Kann ich dir noch was bringen?«
Vivi Ann zwang sich, die Augen zu öffnen. Sie wusste nicht, wie lange sie mit geschlossenen Augen dagelegen und alles immer wieder im Geiste durchgespielt hatte. »Sind Dad und Win schon gekommen?«
Aurora stand an ihrem Bett und sah sie traurig an. In den letzten Stunden hatten Frisur und Make-up ihrer Schwester schwer gelitten. Ohne die Maskerade wirkte Aurora dünn und erschöpft. »Noch nicht.«
Vivi Ann lächelte so überzeugend sie konnte. »Mir bedeutet es viel, dass du mir beigestanden hast, Aurora. Ich verzeihe dir, dass du mein Geburtstagsdiadem geklaut hast.«
Aurora strich Vivi Ann das verschwitzte Haar aus der Stirn. »Ich hab dein dämliches Diadem nicht geklaut. Du bist doch die Prinzessin in unserer Familie.«
»Ich wünschte, ich könnte ihn noch mal sehen. Er ist so winzig.« Bei dem letzten Wort verlor sie ihre Beherrschung; Angst stieg in ihr auf. Sie griff zum Nachttischchen und nahm die schöne rosafarbene Muschel, die sie seit Jahren in ihrer Brieftasche mit sich trug. Sie erinnerte sie immer an ihre Mutter.
»Fang erst gar nicht damit an«, sagte Aurora. »Du bist jetzt Mutter. Du musst für deinen Sohn stark sein.«
»Ich habe aber Angst.«
»Natürlich hast du das. Das gehört zum Elterndasein. Von nun an wirst du immer etwas Angst haben.«
»Könntest du mich nicht anlügen und behaupten, es sei ein Spaziergang durch den Garten?« Vivi Ann schloss die Augen und seufzte müde.
Die schonungslose Offenheit, mit der man ihr begegnete, lähmte sie. Immer wieder ging ihr die bittere Wahrheit durch den Kopf: vierunddreißigste Woche … Lungen noch nicht voll entwickelt … Komplikationen … warten, ob er die Nacht übersteht.
Sie hörte jemanden an der Tür und öffnete die Augen. Hatte sie geschlafen? Wie lange? Sie sah sich nach Aurora oder Dallas um, aber sie hatten das Zimmer verlassen. Es war leer. Man hatte ihr ein Privatzimmer gegeben, was sie großartig gefunden hätte, wenn es aus einem anderen Grund geschehen wäre. So wusste sie, dass man sie nicht mit einer anderen Wöchnerin zusammengetan hatte, weil ihr Sohn es vielleicht nicht schaffte. Das musste man erst gar nicht erklären.
Dann betraten Winona und Daddy das Zimmer. Vivi Ann spürte, wie ihr die Tränen kamen. Als sie Winona ansah, überwältigte sie die Angst, die sie bis dahin zurückgedrängt hatte. Ganz gleich, was zwischen ihnen vorgefallen war, Winona war immer noch ihr Mutterersatz, ihre große Schwester, die stets alles richtig machte. Erst jetzt wurde Vivi Ann bewusst, wie sehr sie sie brauchte. »Hast du ihn gesehen, Win?«
Winona nickte und trat zum Bett. »Er ist wunderschön, Vivi.«
Dad umklammerte mit seinen großen, schwieligen Händen das Bettgestell. Sie wirkten vor dem glänzenden Metall wie alte Wurzeln. Er stand nahe genug, dass Vivi Ann sah, wie hohlwangig er war und wie sehr er sich bemühte, seine Gefühle unter Verschluss zu halten.
Diesen Gesichtsausdruck, diesen Blick kannte sie schon ihr ganzes Leben, zumindest aber seit dem Tod ihrer Mutter. »Hey, Daddy«, sagte sie und hörte das Zittern in ihrer Stimme.
Seine Miene
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