Das Geheimnis der Schwestern
änderte sich so unmerklich wie kalte Butter, die an einem sonnigen Tag an den Rändern schmilzt, aber sie sah darin alles, was für sie zählte. So hatte er sie auch früher angesehen, als sie noch seine Lieblingstochter war, die nichts falsch machen konnte, und er ihr Fels in der Brandung. Winona hätte dazu Worte gebraucht, und Aurora wäre die Veränderung vielleicht nicht aufgefallen, aber Vivi Ann wusste, was sie bedeutete: Er liebte sie. Und mehr brauchte sie nicht.
»Er ist zu klein«, sagte sie und fing an zu weinen. »Sie meinen, er schafft es vielleicht nicht.«
»Wein doch nicht«, bat Winona, weinte aber auch schon.
»Er schafft es«, meinte Dad und klang jetzt fest. Das war die Stimme ihrer Kindheit, die mit dem Tod ihrer Mutter verschwunden, aber jetzt wiedergekommen war. Es erinnerte sie schmerzlich daran, wie sie alle gewesen waren, als Mom noch lebte.
»Wieso bist du dir da so sicher?«
»Er ist doch ein Grey.«
Da musste Vivi Ann lächeln. Ein Grey. Seit Generationen verkörperte dieser Name Stärke. »Ja«, sagte sie leise und verspürte zum ersten Mal Hoffnung.
Es bedeutete Vivi Ann unendlich viel, dass sie hier zusammen waren, dass sie nach all dem, was passiert war, noch eine Familie waren. Eine Weile unterhielten sie sich, dann schloss sie kurz die Augen. Als sie sie wieder aufschlug, war es dunkel, und die anderen waren gegangen.
Sie drückte auf den Rufknopf und setzte sich mühsam auf. Es war dunkel im Zimmer, doch vom Fenster fiel Mondlicht herein und beleuchtete ihren Mann, der zusammengesunken auf einem unbequemen Kunststoffstuhl saß. In dem unwirklichen Zwielicht brauchte sie einen Moment, um sein Gesicht zu erkennen.
»O nein, Dallas«, sagte sie.
Langsam stand er auf, kam zu ihr und fuhr sich dabei mit der Hand durch seine langen Haare. »Du solltest mal den anderen sehen.«
Am Bett blieb er stehen.
Plötzlich war sie dankbar für das dämmrige Licht, wünschte sich sogar, es würde noch dunkler sein. Denn im Kontrast zwischen Mondlicht und Schatten wurde die Bescherung nur noch deutlicher: Seine Wangen waren hohl und bleich bis auf die dunkle blutige Wunde direkt über dem Knochen; ein Auge war so geschwollen, dass er es nicht mehr öffnen konnte, und wirkte ungesund gelblich. Er hob die rechte Hand und zeigte seine wunden Knöchel, an denen das Blut schwarz getrocknet war.
»Wo warst du?«, fragte sie.
»Bei Cat.«
»Wer hat angefangen?«
»Ich.«
Vivi Ann blickte ihrem Mann in die Augen und sah, wie schwer sein Vater ihn verletzt hatte und wie sehr er sich davor fürchtete, selbst Vater zu sein. Vieles an ihm war ihr unbegreiflich, zum Beispiel, was es mit einem machte, wenn man mit Stromkabeln verprügelt oder in einem dunklen Schrank eingeschlossen wurde; oder wenn man mit ansehen musste, wie der eigene Vater die eigene Mutter umbrachte. Aber sie wusste, wie man weitermachte, und sie wusste, wie man liebte. »Aurora hat mir erzählt, dass wir von nun an immer Angst haben werden. Offenbar gehört das zum Elterndasein.«
Darauf sagte Dallas nichts. Er blickte nur zu ihr, als wartete er auf etwas.
»Du kannst nicht jedes Mal losgehen und jemanden verprügeln, wenn du Angst hast. Das wollte ich damit sagen.«
»Und wenn ich das nicht schaffe?«
»Du schaffst das.«
»Viele Leute … Bullen, Richter, Seelenklempner … meinten, ich wäre wie mein Vater. Frag Winona. Sie hat mein Vorstrafenregister ausgegraben, und in einer Sache hat sie recht: Es sieht nicht gut aus.«
Das war die bisher deutlichste Aussage über seine Vergangenheit: Sie stellte sich vor, wie er als kleiner Junge jahrelang misshandelt wurde, plötzlich ganz allein dastand und dann auch noch von den Erwachsenen zu hören bekam, er sei verdorben bis ins Mark. Ein misshandeltes Tier kann bösartig werden. Hatten sie es etwa gewagt, dies zu einem kleinen, misshandelten Jungen zu sagen?
Sie streckte die Hand aus und berührte sanft seine verletzte Wange. »Du liebst mich, Dallas. Das macht den Unterschied.«
Er nickte, aber erst nach einer ganzen Weile, und auch da lächelte er nicht.
»Also hörst du jetzt auf, Leute zu verprügeln, wenn du Angst hast, klar?«
»Klar.«
»Und jetzt bring mich zu unserem Sohn. Ich hab den ganzen Tag auf dich gewartet.«
Er half ihr in einen Rollstuhl, wickelte sie in eine warme Decke und rollte sie zur Neugeborenen-Intensivstation. Dort redeten sie auf die Nachtschwester ein, bis sie eine Ausnahme machte und ihnen den Inkubator zeigte, wo ihr winziger Sohn
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