Das Geheimnis der sieben Palmen
heller Stimme. Sempa fuhr herum und breitete weit die Arme aus. König aller Könige – sie sagte es! Sein Federkleid leuchtete in der Sonne, ein Rausch aus Farben und Gold.
»Eve! Was soll das?!« schrie Phil entsetzt.
»Nimm den Ring und dreh die obere Platte, o großer Topas Madzu!« sagte Evelyn kalt.
»Eve! Er ist doch wahnsinnig! Er ist ein kranker Mensch! Er weiß doch gar nicht mehr, was er tut!«
»Er weiß genau, daß er dich umbringen will!«
»Ich werde mit ihm reden. Nur mit Reden kann man ihn noch festhalten. Ich werde solange reden, bis er mich begreift …«
»Der andere Weg ist mir sicherer.« Sie ging langsam zurück, weil Sempa sich ihr bereits näherte, begierig, sie endlich besitzen zu dürfen. Mit schmeichelnder Stimme sagte sie: »Großer König, heb den Ring der Sonne entgegen und drehe an der oberen Platte. Alle Götter werden dich lieben. Der Himmel wird sich dir öffnen …«
»Eve!« schrie Phil. »Das kannst du nicht tun! Ari, hör nicht auf sie! Wirf den Ring ins Meer!«
Verzückt hob Sempa die rechte Hand und betrachtete den herrlichen Ring. Der Tod im glitzernden Gewand. Dann schwenkte er die Hand hin und her, als dirigiere er eine wundersame, nur für ihn hörbare Musik. Stolz spazierte er zwischen seinen goldenen Götterfiguren herum, blieb am Rand des Felsens stehen, breitete weit die Arme aus, als wolle er Himmel und Meer umfangen, und streckte dann wieder die Hand mit dem blitzenden Ring der Sonne entgegen.
Der Wind blähte den bunten Federmantel auf. Wie ein riesiger Sagenvogel, schwerelos, schien Sempa über das Land zu fliegen …
»Dreh die Platte!« rief Evelyn. »Nur wenn du die Platte auf dem Ring drehst, bist du der König aller Könige!«
Bei Sempa war ein Stadium des Wahnsinns erreicht, in dem er auf Worte nicht mehr reagierte; sie flogen wie Windstöße an ihm vorbei. Ob Evelyn ihn aufforderte, den Todesring zu drehen, oder ob Phil, an seiner Palme festgebunden, ihn laut daran hindern wollte … ohne ein Zeichen des Verstehens stolzierte er in seinem herrlichen Königsmantel, die Krone aus Federn, Gold und Edelsteinen auf dem dicken Kopf, die goldenen Teller als Schuhe an den riesigen Füßen, vor der Brust die schweren, massiven Goldplatten, hoheitsvoll herum, grüßte nach allen Seiten, als jubele das Volk ihm zu, und schien Dinge zu sehen und zu hören, die ihn zutiefst beglückten.
Was Phil verwunderte, war das radikal schnelle Fortschreiten des Wahnsinns, diese völlige Verwandlung eines Menschen von Minute zu Minute, der erschreckende Zerfall des Geistes und das rasante Aufblühen eines illusionären Irrsinns. Was da mit Ari Sempa geschah, was sich in vielen kurzen, prägnanten Phasen steigerte, war der seelische und geistige Zerfall eines Menschen, wie er so deutlich, und vor allem in dieser Geschwindigkeit noch selten beobachtet wurde.
Evelyn schwieg, als Sempa begann, zwischen seinen goldenen Figuren herumzutanzen, nach einer Melodie, die nur er hörte. Auch Phil schwieg, weil er plötzlich an Phänomene erinnert wurde, von denen er irgendwann einmal gelesen hatte.
Es gab – so behaupten Publizisten – einen Fluch der Pharaonen, der jeden trifft, der die Grabruhe der ägyptischen Könige stört. Etliche Forscher – so wollte man wissen – seien diesem Fluch bisher zum Opfer gefallen, sobald sie sich an den Ausgrabungen beteiligt hatten: Sie sollen unter rätselhaften Umständen gestorben sein: an plötzlichem Nervenfieber, an Herzversagen ohne ersichtlichen Grund, an Selbstmord in scheinbar unbegründeten Depressionen, an geradezu absonderlichen Unfällen, an Vergiftungserscheinungen, die man toxikologisch nicht erklären konnte. Viele Bücher waren darüber geschrieben worden, chemische Analysen hatten auf in den Gräbern zurückgelassene ›Todesfallen‹ aus Quecksilberdämpfen schließen lassen oder auf geruchlose Gase, die sich erst bilden, wenn der geheimnisvolle Grundstoff mit Sauerstoff in Verbindung kommt; auch von Mutterkorngiften und sogar von Todesstrahlen radiumhaltiger Gesteine war die Rede.
Dergleichen gab es wohl bei den Inkas nicht. Aber sie wußten sehr genau Bescheid über die Wirksamkeit von Pflanzengiften, die das Gehirn umwandeln und Halluzinationen herbeiführen. Rauschgifte wie das Meskalin oder der getrocknete Pilz Teonanacatl, den die Mayas das ›Fleisch der Götter‹ nannten, waren den Priestern der Inkas ebenso geläufig wie das Schnupfpulver Yakee oder das Rauschgift Yopo, gewonnen aus den Samen des
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