Das Geheimnis der Sprache (German Edition)
bringt die Köpfe der Werke unters Fallbeil. Die Person ihres Schöpfers verblutet unter dem Beginnen. Was soll werden aus Kants Prolegomena, aus seiner Kritik der reinen und der praktischen Vernunft, aus der Anthropologie, aus Hegels Hauptwerk Phänomenologie, aus Fechners Zendavesta? Sollen wir das zerlegen in Avesta und Zend, Text und Auslegung heiliger Schriften? Aber dann hört es doch auf, Fechners Buch zu sein, deckt sich nicht einmal annähernd mit seinem Inhalt! Tut nichts, wir handeln im Auftrag des erwachten Sprachgeistes, wir gehen an die Umtaufe von Humboldts Kosmos, von Lessings Dramaturgie, von Freytags Technik des Dramas, von Goethes Metamorphose der Pflanzen, von Schellings Briefen über Dogmatismus und Kriticismus, von Jakob Burckhardts Kultur der Renaissance und Cicerone, von Machs und Liebmanns Analysen, von all den Werken, die mit dem Ausdruck Renaissance pennälern, und kümmern uns nicht im geringsten darum, ob ihre Urheber sich dabei im Grabe herumdrehen. Das Verfahren wird ja so oft wiederholt, daß sie nach der zwanzigsten oder dreißigsten Umdrehung immer wieder richtig liegen.
Die Wesenheit des Titels ist gleich der eines Eigennamens. Und wenn uns ein fremdsprachiger Titel, wie Parerga und Paralipomena, teuer geworden ist, so hängen wir an ihm als an einem Schatz und wehren den Veränderer ab, als ob er uns sonst einen liebgewordenen Namen vergewaltigen wollte. Man mute es einem Max zu, seine Agathe fortan »die Gute« zu nennen, weil Agathe doch griechisch ist und wirklich auf reindeutsch gar nicht anders heißt als die Gute. Oder man verlange von einem deutschen Egmont, er möge nicht mehr für Clara, sondern für »die Helle« oder für »die Berühmte« schwärmen, im kosenden Diminutiv statt für Klärchen für sein »Berühmtchen«. Ich möchte nicht in der Haut des Antragstellers stecken. Und doch verhält sich Berühmtchen zu Klärchen gar nicht anders als irgend eine mögliche Übersetzung zu Kritik, zu Problem, zu Ethik, zu Analysis und hundert anderen Weltworten im Titel.
Aber das alles – so könnte man einwenden – betrifft doch nur das Gebiet der Gelehrsamkeit und berührt nicht das schöngeistige Schrifttum. Wirklich nicht? Ich glaube doch, daß unsere Herren Wiedertäufer auch im Felde der Dichtung recht viel Arbeit vorfinden könnten. Das ganze Heer der Balladen, Romanzen, Oden, Sonette, Xenien wartet schon auf sie; dazu Goethes Römische Elegien, Venetianische Epigramme, seine Campagne in Frankreich, Schillers Kabale und Liebe, Gryphius' Horribiliscribrifax, Ebers' Per aspera, Hauffs Memoiren des Satans und Phantasien im Ratskeller, Heyses l'Arrabiata und Märtyrer der Phantasie, Heines Romancero und Lyrisches Intermezzo, der Roman Quo vadis, Hoffmanns Automate, Fermate, Doge und Dogaressa, Andersens Improvisator, Freytags Journalisten, Fontanes L'Adultera, Ebers' und Harts Homo sum, Holteis Vagabunden und Nestroys Lumpacivagabundus, Hamerlings Homunculus, Storms Aquis submersus und so fort durch Unendlichkeiten bis zu Thomas Medaille und Lokalbahn und bis zu Sudermanns Morituri, wofür ich mich anheischig mache, in den bewußten Kreisen die Bezeichnung »Die Sterblinge« durchzusetzen.
Ich nenne diese Titel, wie sie mir grade durch den Kopf gehen, ohne im geringsten an deren geschichtliche Folge zu denken, und ich ergänze ebenso, außer Zusammenhang, aus anderen Schriftbereichen: Opitzens Deutsche Poeterei, Schillers Über das Pathetische, Über den moralischen Nutzen ästhetischer Sitten, Über naive und sentimentalische Dichtung, Lavaters Physiognomik, Nordaus Konventionelle Lügen und Paradoxe, ja ich ergänze als eine Gesamtheit das grunddeutsche, unvergleichlich deutsche Kommersbuch, das wohl in irgendwelcher Zeit Festkneipenbuch heißen wird, falls es dann noch Universitäten, Studenten und Präsiden geben wird, die einen Cantus steigen lassen.
Jeder meiner Leser kann die Aufzählung aus dem Gedächtnis beliebig fortsetzen, aber nicht jeder weiß, daß solche Bestrebungen selbst den Titeln gegenüber sich tatsächlich schon hervorgewagt haben und wohl noch im Schwange sind. Ich kann das natürlich nicht im einzelnen belegen, denn wer hebt sich all das Zeug zeitungsschreibenden Eintagsgeflügels auf? Aber ich besinne mich, schon »Troersang« gelesen zu haben, wo die Ilias gemeint war, »Aufsteigezug« für Xenophons Anabasis, »Wellmaid« für Fouqués oder Lortzings Undine, und einmal verwies der Schreiber auf Jean Pauls »Riesen-Geschichte«, wo ihm der
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