Das Geheimnis der Sprache (German Edition)
Und das innere Ohr hat seine Patenschaft nicht verweigert, als das Neuwort geboren wurde.
Gewiß, das Abkürzungsverfahren hat bei uns neben gut und leidlich Klingendem auch manches Übeltönende hervorgebracht. Aber diese kleinen Sprach-Geschwürchen sind noch erträglich gegenüber den unabsehbaren Wucherungen der Langwörterei. Deren Erzeugnisse sind wie die Atlantosauren und Diplodokken der Vorwelt Schrecknisse der Natur, und man kann nur wünschen, daß es ihnen ebenso ergehe, wie den Riesenechsen der Vorzeit; das heißt: daß sie von der Überfülle ihrer eigenen Körper erdrückt werden. Das ergäbe auch einen Ausblick auf gedeihliche Neu- und Zukunftsgestaltungen. Aus den Dinosauriern entwickelten sich die Vögel, die das Singen erlernten. Ob sich vielleicht aus den Dinosaurischen Sprachungeheuern, die uns heute umkrächzen, später einmal beschwingte Singworte entwickeln werden?
Das wäre ein Segen für Auge und Ohr, nicht nur für das Ohr allein. Denn das innere Auge nimmt die Chladnifigur des Klanges wahr, zum Tone ein Bild. Es liefert zur Sinnesempfindung eine wichtige, obschon den meisten Menschen unmerkliche Komponente.
In Lessings Nachlaß fand sich ein Aufsatz über das Thema »Daß mehr als fünf Sinne für den Menschen vorhanden sein können«, und hieraus hat Fritz Mauthner in seiner gewaltigen Kritik der Sprache bedeutsame Folgerungen gezogen. Unsere Sinne sind »Zufallssinne«, nicht so zu verstehen, daß unsere Sinne zufällig so wurden, wie sie geworden sind, aber so, daß in einer unbekannten Welt die Sinne ganz andere Wahrnehmungen ihrem Träger zuführen können. Der Zufall ist der wohltätige Hilfsbegriff, der uns zum Ersatz unauffindbarer Glieder in der Kausalkette dient. Er öffnet uns die Möglichkeit von Fragen, die in der strengen Notwendigkeit keinen Bestand hätten und trotzdem zu Einsichten führen können. Diese Einsichten haben die Form der Wahrscheinlichkeit, des »Vielleicht«; und in diesem Vielleicht steckt wiederum die Berufung auf den Zufall.
Vielleicht irren wir uns alle in der Beurteilung unserer Sinne. Vielleicht hatte Epicharm Recht mit seinem Ausspruch: »Das Auge ist blind, das Ohr ist taub, nur der Verstand sieht und hört.« Vielleicht ist das Feld der Sinne überhaupt ganz anders abgegrenzt, als wir meinen. Tieck sah den Flötenton blau und stellte einen Maler dar, der den Gesang der Nachtigall auf die Leinwand wirft. E. T. A. Hoffmann erklärte, daß der Geruchssinn für den Musiker zum Hörsinn wird, daß Düfte wie Farben und Lichtstrahlen ihm als Töne erscheinen, und daß ihr Zusammenklingen ihm zu einem wunderbaren Konzert wird. Der Duft der roten Nelke erregt in ihm den Eindruck ferner Waldhornklänge. Sein Kapellmeister Kreisler trägt einen Rock in Cis-Moll und einen Kragen in D-Dur; der Ton wird ihm greifbar, und mit einer übermäßigen Quinte will er sich erdolchen. Dem Maler Feuerbach galten seine Farben dauernd als Klangschwingungen, für Otto Ludwig verwandelten sich Goethe und Schiller in Farbenerreger, und der große Dirigent Hans von Bülow forderte oft vom Orchester, bestimmte Stellen röter oder grüner zu spielen. Vielleicht verbirgt sich in all diesen Phantasien ein Stück unerkannter Wirklichkeit? Vielleicht ist das besondere Sprachohr, Nietzsches »Drittes Ohr«, physiologisch erforschbar?
Wir haben keinen Anlaß, uns dieser Möglichkeit völlig zu verschließen, ja wir bekennen sogar, daß wir mit ihnen rechnen wollen, um gewisse Erscheinungen anders zu erfassen, als im Zuge der Landläufigkeit. Daß das Ohr sieht, zu sehen vermag, wurde schon erörtert. Über den akustischen Klang hinweg vernimmt es Sinn-Klänge und wird dadurch zu einem Organ der Ein-sicht in Zusammenhänge. Der Verstand antwortet auf Botschaften des Ohres mit Einsichten.
Und das Auge hört. Jede Musikaufführung müßte uns zur Anerkennung dieses Satzes zwingen, wenn nicht ein anderer Denkzwang uns immer wieder auf die angeblich festen Grenzen zwischen den Sinnen stieße und irreführte.
Die alten, neuerdings wieder lebhaft besprochenen Frageprobleme: Sollen wir die Orchester verdecken? Ist die Sichtbarkeit des Kapellmeisters für den Kunstgenuß wertvoll? beruhen auf diesem alten Denkzwang. Man hat Umfragen veranstaltet, zahlreiche hervorragende Künstler haben sie beantwortet, so oder so, und alle Gutachten gingen am Wesentlichen vorbei; da sie immer nur vom »Urteil über die Leistungen« handelten, nicht auf die elementare Empfindung eingingen. In dieser aber
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