Das Geheimnis der Sprache (German Edition)
schon oben, bei »Arzt« berührt wurde; die Ergänzung Ober = über, von ὑπέρ, führt auf einen Hyperarchiater, wie der Doktor vielleicht heißen würde, wenn er in lautlicher Urgestalt zu uns gekommen wäre.
Er verordnet ihm Rhabarber , der von radix barbara herkommt, in pflanzlicher Verwandtschaft mit Rettich und Radieschen, die das Grundwort radix leichter erkennen lassen.
Wir brechen hier ab, vorläufig, und einfach deshalb, weil doch irgendwo ein Ende gemacht werden muß. Der Stoff selbst würde Fortsetzung bis ins Unendliche gestatten. Wir haben hier in der »radix barbara« wieder das Grundthema erreicht, die »fremdländische Wurzel«, von der wir in unsrer Betrachtung ausgingen. Man grabe, wo man will, überall stößt man im sprachlichen Erdreich auf solche Wurzeln; sie vermehren sich ins Unabsehbare, wenn man außer dem Latein und Griechisch noch die Herkünfte aus Italienisch, Französisch, Englisch, aus slawischen Sprachen usw. usw. in Betracht zieht.
Ich stelle mir einen aufmerksamen, unverbildeten Leser vor, der vordem noch keine Gelegenheit hatte, derlei Zusammenhängen nachzuspüren, dem sonach die obige Liste einiges Neue und Belehrsame geboten haben mag. Und ich bin sicher, daß schon am ersten Drittel der Lehrstrecke jene Frage ihm ankam mit stetig wachsendem Fragezeichen: ja, wenn so viel im Deutschen entlehnt, aus Fremdkeim entwickelt ist, was ist dann noch wirkliches Fremdwort? wo ist die Grenze zu ziehen?
Und die einzige Antwort, die man ihm mit guten Gewissen geben kann, lautet: es gibt keine Grenze, alles fließt, jeder Versuch, Abteilungsstriche einzuziehen in das Fließende, muß als aussichtslos und kindisch erscheinen.
Tatsächlich zieht auch jeder unserer Reinigungsmeister die Grenze anders. Jeder läßt anderes gelten, lehnt sich gegen anderes auf. Es herrscht die reine Willkür und die unklare Gefühlswallung statt des sichtenden Verstandes. Alle zusammen wirtschaften freilich mit dem Begriff der »Eindeutschung«, aber über den Grad der Einbürgerung, der Eingedeutschtheit entscheidet jeder nach eigenem Gutdünken. Und keiner kann sich so recht vergegenwärtigen, was eigentlich mit dem Fremdwort vorgeht, wenn es bei uns einwandert, sich den Gepflogenheiten des Landes anpaßt, um schließlich ganz deutsch zu werden.
Irgendwann in einem vergangenen Jahrhundert müssen diese Vorgänge stattgefunden, und jedes Fremdwort, als Vorläufer des späteren Gutdeutschwortes, muß einmal den kritischen Punkt überschritten haben. Kam es hinüber oder nicht? das ist die Einzelfrage. Durchgreifende Gewißheit aber ist: kein einziges wäre hinüber gekommen, wenn es schon damals die stirnrunzelnden Grenzwächter gegeben hätte, die Herrn Verbieterles, die den geschlossenen Sprachstaat verlangen und nichts hineinlassen, was nicht schon drin ist.
Was sie heute betreiben, ist die Unterbindung dieses natürlichen Vorganges, der unserer Muttersprache so viele triebstarke Säfte zugeführt hat; eine Abschnürung der Triebe infolge mangelnder Überlegung und besonders infolge der Unfähigkeit, sich in die Sprachnotwendigkeiten anderer Menschen einzufühlen. Soll künftig nur die engere Empfindung entscheiden? ich verlange den Freipaß für die erweiterte, die ihr natürliches Recht schon zu Urväterzeit ausgeübt hat. Deine Eindeutschungsgrenze braucht nicht die meine zu sein. Wie wäre es dir, wenn ich dir das Wort »Orgel« untersagte, als ein verkapptes Fremdwort, das noch alle Fremdzeichen aus organon an sich trägt? du würdest wettern und toben, oder mich auslachen, und ganz mit Recht; denn die Orgel ist deutsch. Für mich ist aber »Organ« , als dem nämlichen organon entstammt, ebenfalls deutsch, und keiner braucht mir anzukommen, der es mir ausredet oder übersetzt.
Das Wort »Apotheke« hat in sieben Jahrhunderten genügend Zeit gehabt, sich einzudeutschen; seit dem sechzehnten Jahrhundert ist es vollständig deutsch geworden, und niemand rüttelt an seiner völkischen Geltung. Immerhin ist es der Übersetzung fähig, und gerade diese: »Ablage« steht an Sinnigkeit weit zurück gegen andere »– – theken«. Wenn also Apotheke als einwandfrei erscheint, warum soll ich in Glyptothek, Pinakothek, Bibliothek, Kartothek und Hypothek lästige Ausländer erkennen?
Dem Wort »Tinte« liegt das gleichbedeutende lateinische tincta , »Gefärbtes, Buntes« zugrunde. Aber Tinte ist deutsch, während Tinktur gezwungen wird, im Fremdwörterbuch Platz zu nehmen; weil der sprachliche
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