Das Geheimnis der Sprache (German Edition)
scheidet, soll bei irgend einem Mittelwert, sagen wir bei 50% liegen. Willkür genug bliebe noch übrig, aber man hätte doch wenigstens eine erfaßbare Regel. Da eine solche fehlt und niemals gewonnen werden kann, so bleibt alles dem Empfinden anheimgestellt, das nur Gradunterschiede, aber keine Wesensunterschiede wahrnimmt. In der Dehnbarkeit dieses Empfindens liegt aber zugleich die Bürgschaft für eine gedeihliche Fortentwickelung des Sprachgutes. Tritt es eng und pedantisch auf, so werden zahllose Keime abgeschnürt, die in naher oder ferner Zukunft zur Vermehrung unseres Sprachschatzes erwachsen können. Tritt es frei auf und nicht durch Verfügungen beängstigt, so können tausende von Fremdlingen dereinst gutdeutsch werden, wie sie früher gutdeutsch waren, als die Empfindung sich noch nach dem Bedarf und nicht nach ausgeheckten Maßregeln richtete.
Sprachlich wie wirtschaftlich war und ist Deutschland darauf angewiesen, Rohstoffe einzuführen, die einem Umbildungs- und vielfach einem Veredelungsverfahren unterworfen werden. Daran wird auch die Zukunft nichts ändern. Je freier die Grenzen, desto größere Möglichkeiten für den Veredelungsbetrieb. Nun hätte es noch allenfalls einen Sinn, dafür zu sorgen, daß nichts hinausdringt, aber die Einfuhr zu unterbinden, ist in jedem Betracht unsinnig, namentlich auch in dem, daß die Worte des gegenwärtigen Bestandes alsdann zur Inzucht verurteilt würden. Und Inzucht führt in allem Organischen zur Entartung, stellt einen verschleierten, langsamen Selbstmord dar. Wo die Kreuzungen ausgeschaltet werden, verfällt die Zucht dem Ruin. Und auf dieses zwar nicht gewollte, aber unvermeidliche Ziel arbeiten diejenigen hin, die angeblich zum Schutz der Sprache die chinesische Mauer errichten. Ginge es nach ihnen und hielte ihre Sperrmauer so dicht, wie sie sich einreden, so hätte Deutschland in hunderten von Jahren nicht eine gereinigte, sondern eine durch Inzucht verschmutzte, verdorbene, hinsichtlich der Ausdrucksmöglichkeit verhungernde Sprache. Nur dann verhungert sie nicht, wenn sie einigermaßen Schritt zu halten vermag mit dem alle Umkreisungen durchbrechenden Denken, das die begriffliche Peripherie dauernd und unaufhaltsam ausweitet. Aber wie soll sie Schritt halten, wenn sie nach allen Richtungen hin gegen eine Mauer anrennt?
Zum Glück hält die Mauer eben keineswegs dicht, und es steht zu hoffen, daß sie unter dem Ansturm der Notwendigkeiten zusammenbrechen wird. Das ist die Hoffnung derer, die da wissen, daß das Fremdwort von gestern das eingedeutschte Wort von morgen und das Deutschwort von übermorgen werden kann; wozu sich ja aus unserer kleinen vorher gegebenen Liste ein ziemlich überzeugender Beweis ziehen läßt. Inzwischen mögen die schulmeisterlichen Veredler von heute fortfahren, ihr Tagewerk zu üben, mit Bestanderhebungen und Beschlagnahmungen von Ausdrücken, denn das ist ihres Amtes, »wie sie es verstehen«. Sie rationieren, sie beliefern uns, sie stellen Bezugsscheine auf Worte aus, nach einem Schema von unergründlicher Amtstiefe. Und manch einer, der sich in seinem Sprachhunger gegen die Bevormundung auflehnt und Auslandsware aufnimmt, mag in den Verdacht des Schleichhandels geraten. Das ist nur ein Übergang. Über kurz oder lang wird doch der freie Handel, auch mit Worten und Gedanken, wieder in Kraft treten, denn er ist die alleinige Form, die den Bedingungen des Menschendaseins und des Geisteslebens völlig gerecht wird.
Eine Unmenge von Zeit, Scharfsinn, Gerede und Geschreibe wurde von den Scholastikern auf die Frage verwendet: »Ist die Fledermaus ein Vogel?«, und keinem der weisen Streiter fiel es ein, erst einmal den Begriff »Vogel« fest zu umgrenzen. Ist ein Vogel durch die Federn eindeutig definiert? dann gehört der Kasuar mit seiner roßhaarartigen Bekleidung nicht zu den Vögeln; durch das Fliegenkönnen? dann darf sich die Fledermaus melden, und ebenso der Hammel, der zugleich mit Ente und Hahn den ersten denkwürdigen Flug in der Montgolfiere ausführte, nicht aber der Strauß. Und man definiere, wie man wolle, immer wäre in der Vorzeit oder auf einer unentdeckten Insel ein Geschöpf möglich, das Vogel wäre und doch nicht in die Definition paßte, oder das die Definition erfüllte, ohne Vogel zu sein. Die Enkel jener Scholastiker leben mitten unter uns, die Fledermaus-Debatte haben sie aufgegeben, aber sie fragen so ähnlich und mit derselben Ausdauer: ist dieser oder jener Ausdruck ein Fremdwort? Und wiederum
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