Das Geheimnis der Sprache (German Edition)
steht auf gleicher Stufe mit dem vor langer Zeit von einer ausländischen Akademie ausgerufenen Doktorproblem: Warum wiegt ein toter Fisch mehr als ein lebendiger? Zahlreiche Beantwortungen preislüsterner Bewerber liefen ein, bis einer auf den Gedanken verfiel, die Sache mit der Wage zu untersuchen; der ermittelte: ein toter Fisch ist gar nicht schwerer. Auf unsern Fall übertragen: das Latein ist gar nicht gestorben. Es lebt ein anderes Leben als zur Zeit Ciceros, ein anderes als in der mittelalterlichen Gelehrtensprache, aber es lebt. Und wenn wir leidlich gebildet reden, so lebt es auch unter uns. Als Ovid in der Verbannung sang: barbarus hic ego sum, quia non intelligor ulli – war sein Latein tot in dem Umkreis, der ihn nicht verstand. Solange aber noch irgend ein deutscher Student mit strotzender Kehle und blitzendem Auge sein Gaudeamus schmettert, lebt das Latein in Jugendkraft.
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Muß es denn immer am Buch liegen, fragt Lichtenberg, wenn es beim Zusammenstoß von Buch und Kopf hohl klingt? Ein prachtvoller Aphorismus, der zwar nicht jeder akustischen Probe standhält, aber doch weiter verfolgt werden sollte. So klingt es meist recht hell und freundlich, wenn ein leeres Buch und ein leerer Kopf zusammenstoßen. Und viele Bände verdanken ihren Erfolg einzig der Echowirkung dieser freundlichen Klänge.
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Von Lichtenberg stammt auch der Ausspruch, daß jeder Mensch einmal im Jahre oder einmal im Leben genial sei. In der Wissenschaft reicht solch einmalige Genialität aus, um dem Menschen einen hohen Platz zu sichern. Robert Mayer, der Entdecker des mechanischen Wärme-Äquivalents, war einmal im Leben genial, eben bei dieser Entdeckung, nie zuvor und nie nachher. Aber da dieser Lichtmoment gerade auf wissenschaftlichem Gebiet auftrat, so genügte er. Im Schrifttum genügt die Einmaligkeit nicht. Da tritt die Menge als Wertfaktor hinzu und zwar als selbstverständlicher. Es findet keiner einen genialen Satz, eine geniale Strophe, dem nicht das Genie aus den Poren bricht. Keiner schafft ein unvergängliches Gedicht und nur dieses einzige. Und wenn euch solch ein Sonderfall angepriesen wird, verlangt die Probe und Kontrolle durch andere Erzeugnisse des nämlichen Verfassers. Sind sie nicht zu ermitteln, so mißtraut auch dem Sonderfall. Es liegt kein vereinzeltes Goldkorn im Sande. Finden sich ihrer nicht mehrere, so war's ein Messingsplitter.
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Wenn Lessing fordert, daß ein schlechter »Dichter« wenigstens ein guter Reimer sein müsse, so verlangt er zu viel. Der schlechte Dichter besitzt die Befugnis, schlecht zu reimen, im selben Grade wie der gute, der schlecht reimen mag, ohne damit seiner Dichterhöhe etwas zu vergeben. Aber keiner besitzt das Recht, das Ohr des Lesers und Hörers auf den Reim lyrisch einzustellen und es dann mit absichtsvoll falsch konstruierten Reimen zu überfallen; bloß um zu zeigen: ich mach's anders als andere. Das ist schlimmer als ein Verbrechen, das ist ein Fehler im sittlichen Empfinden. Der Dichter, wenn man ihn noch so nennen will, lädt den Hörer zu Gaste, stellt sich an, als wolle er ihm Musik machen, intoniert einen Takt richtig, läßt das Instrument blitzschnell sinken und haut dem Gast mit der harten Leyer aufs Ohr. Das fällt nicht mehr unter die Kunstregeln, sondern unter die Strafparagraphen.
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»Was er weise verschweigt, zeigt mir den Meister des Stils.« Nur bedingungsweise anzuerkennen. Nur als eines unter den zahllosen Zeichen der Meisterschaft kann das weise Verschweigen gewürdigt werden, und nicht einmal als das oberste von allen. Übergeordnet ist ihm das weise Aussprechen dessen, was kein Leser zu finden vermöchte, obschon er an der entscheidenden Stelle gar nichts vermißt. Der Autor setzt einen Ausdruck hin, der Leser ergänzt es aus eigener Intuition durch fünf andere, freut sich der Anregung und begrüßt die Stilmeisterschaft. Aber diese Prägnanz, sechs durch eins, hat die Möglichkeiten nicht erschöpft. Es gibt noch ein siebentes Wort, eines, das nur der Autor zu finden vermag, und das, an das erste gestellt, unabsehbare Reflexe zu erzeugen vermag. Verschweigt er es, dann bleibt er der Meister des Stils, spricht er es aus – obschon es entbehrlich ist –, so erhöht er den Stil. Die Fälle sind selten, aber doch feststellbar, so besonders bei Nietzsche. Und es ist bezeichnend, daß Nietzsche sich dieser absonderlichen Meisterschaft bewußt war: »Es ist gut, eine Sache sofort zweimal zu sagen und ihr einen rechten und
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