Das Geheimnis der Sprache (German Edition)
und sich mit dem Jahr intim befreunden. Wir tragen unsere Maßstäbe in uns, aus langer Erfahrung gewonnen, zum Gebrauch in jedem Augenblick bereit. Sie legen sich von selbst an und liefern uns die untrüglichen Ergebnisse. Cogito, ergo criticus sum .
Bisweilen aber fallen uns die welthistorischen Fehlurteile ein in alten Kritiken über Schriftwerke, welche die Feuerprobe der Zeit bestanden haben. Jene Urteilsfäller waren ebenso gescheite Leute wie wir und brachten auch ihre fertigen Maßstäbe mit: Voltaire über Shakespeare, Friedrich über Lessing, Goethe über Kleist; und dazu hundert andere, die sich mit dem geschwinden – für ihre Zeit geschwinden – Urteile vergaloppiert haben. Da werden wir bedenklich und nehmen uns vorübergehend vor, das Warten zu lernen.
Als er mit dem Hammer philosophierte, begeisterte sich Nietzsche für das langsame Urteil; man muß die Entscheidung hinausschieben können, aussetzen können, zugunsten einer höheren Geistigkeit, so lehrte er. Und mit diesem Hinausschieben im langsamen Urteil gelangte er dazu, den Parsifal für einen Operettenstoff zu erklären. War nicht ein dunkler Kunstschreiber, der sich die Begeisterung frisch von der Seele schrieb, der Wahrheit näher als ein zögernder Philosoph?
Es ist und bleibt ein fehlerhafter Zirkel, aus dem wir nicht herauskönnen. Beim raschen Urteil geht es zu wie bei der Geburt der Minerva, die fertig aus dem Haupte Jupiters sprang. Nur daß bei uns Menschen gewöhnlich eine Doppelgeburt herauskommt, da der Irrtum der Zwillingsbruder der Kritik ist. Das langsame Urteil reift aus; nur daß wir so selten zwischen Reifung und fauliger Gärung unterscheiden können.
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Nach dem Gesetz der Stetigkeit wäre Genie das höchstgesteigerte Talent. Die neueste Wissenschaft steht im Begriff, uns zu zeigen, daß dieses Gesetz nicht lückenlos gilt. Und so gibt es auch eine Genialität abseits des Talentes, Leistungen in der Dichtkunst, die man als genial, aber als durchaus talentlos bezeichnen kann. Grabbe, Büchner, Lenz besaßen Genie, aber ihnen fehlte das Talent, mit ihrem Genie etwas anzufangen.
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Das Volkslied fremdwörtelt nicht. Das ist erweislich wahr, und es läßt sich erwarten, daß unsere Sprachretter sich keine Gelegenheit zum Ausspielen dieses Trumpfes entgehen lassen. Aber sie wissen dabei genau, daß sie das nicht dürfen und daß ihnen der Trumpf nicht mit natürlichen Dingen in die Finger kommt. Sie schlagen die Volte, sie bedienen sich eines Kunstgriffs, um Dinge in eine Vergleichsebene zu bringen, die ewiggetrennten Welten angehören. Wer Gott im Himmel sucht, kann ihn mit geschlossenen Augen finden, aber zur Erforschung des Sternenreichs am Himmel gehören die umständlichsten Apparate und Rechnungen. Die Einfachheit eines Gesprächs mit Gott fordert durchaus nicht die Übertragung dieser Einfachheit auf das Komplizierteste. Sie könnte sonst ebenso in Anwendung auf den Himmel das Verbot des Fernrohrs und der Spektralanalyse fordern. Was das Volkslied betrifft, so liegt seine Sprache und seine Musik in derselben Ebene, aber wiederum in anderer Welt, wenn wir zum Vergleich die Bildungssprache und die musikalischen Ausdrucksmittel unserer Zeit heranziehen. Wer des Volksliedes Sprachreinheit als das allgemeine Muster hinstellt, kann auch verlangen, daß die moderne Tonkunst mit den Mitteln der trällernden Kindheit auskomme. Jede Verallgemeinerung einer Einfachheit führt ins Absurde. Auch die Tonne des weisen Diogenes war einfach, sie läßt sich aber zum Beweis gegen Spiegelfenster, Treppenanlagen und Warmwasserversorgung nicht verwerten. Der Hausvater, der die Häupter seiner Lieben zählt, kommt mit einem Blick aus; zu anderen Zählungen gehören höhere Arithmetik und Integralrechnung.
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Bei der Gleichsetzung der Worte lauert Gefahr. Denn das Wort schleppt seine eigene Geschichte mit sich und verrät bisweilen Begrenzungen im historischen Ablauf, die zu der Gleichsetzung nicht stimmen.
Antiochus von Syrien bekämpfte die Juden, war also ein Judenfeind . Das ist eine Tautologie. War Antiochus ein Antisemit ?
Die Frage kann stutzig machen. Wortwörtlich bleibt's dasselbe, und trotzdem regt sich ein Widerspruch. Denn wir besinnen uns, daß »Antisemit« als Ausdruck erst seit 1879 existiert und für die Besonderheit einer bestimmten, von uns erlebten Bewegung geschaffen wurde. Eine rückwirkende Kraft bis ins zweite Jahrhundert vor Chr., vollends mit Geltung für einen Syrer, der selbst Semit war, kann
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