Das Geheimnis der Sprache (German Edition)
eisenbahnfahren dürfe, da die Erfindung der Lokomotive von dem Engländer Stephenson herrühre. Über den Shakespeare haben sich ja nun die Umfrager beruhigt, aber sie fragen mit einer weiteren Umbildung des Themas, ob man Fremdworte, Weltworte gebrauchen dürfe, und sie gelangen zu dem Ergebnis, man dürfe es nicht, man solle ausschließlich »deutschdenken«, um deutsch zu reden und zu schreiben.
Es ist der Haßgesang in einer anderen Variation, mit einem Piff-paff-puff-Geschmetter gegen alle, die nicht deutsch denken wollen oder deutsch zu denken verstehen; mithin so ziemlich gegen alle Großmeister der deutschen Literatur. Ganz vornehmlich aber kriegen die Heutlebenden, die sich etwa gegen die Forderung wehren, eins auf den unpatriotischen Pelz gebrannt. Was heißt nun »Deutsch denken«? Geht es auf die vaterländische Gesinnung, so verbitten wir uns jeden Zweifel und jede Überhebung, da wir in unserm Glaubensbekenntnis gar nichts Höheres finden als eben dieses Denken. Geht es aber auf die Gehirnleistung, die etwas schaffen soll, so gibt es ebensowenig ein deutsches Denken, als eine protestantische Mathematik oder als eine katholische Botanik. Es gibt eben bloß ein »Denken«. Und der Satz, der umgedacht werden kann, war des ersten Denkens nicht wert. Was den Satz zum neuen Satz, das Werk zum wertvollen Werk macht, beruht auf der Erfindung, auf einer neugestaltenden Arbeit der Gehirnzellen, die nur von Sprache wissen, aber nicht von Sondersprache. Ist der Satz, das Werk heraus, dann kann man darüber streiten, ob diesen oder jenen Ausdruck durch einen andern zu ersetzen möglich oder zweckmäßig sei. Den Streit in den ursprünglichen Denkakt verlegen, ist ein Unsinn. Ein großer Teil der wertvollsten Weltliteratur trat zur Zeit der Humanisten lateinisch ans Licht. War er lateinisch gedacht? Hätten die Volksgenossen den Urhebern zurufen dürfen: denkt deutsch, denkt italienisch, denkt holländisch? höchstens doch: schreibt es auf, daß wir's verstehen, übersetzt es uns. Das kann man machen, in jedem Einzelfalle. Aber das betrifft nur das nachträgliche Kleid, nicht den Körper. Der ist urerschaffen, ein Adam, nackt, nicht behängt mit irgendwelchen nationalen Kennzeichen.
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Es gibt Schriftsteller, die leben vom Nichtverstandenwerden. Bei einigen von ihnen kann man sogar einen Aufstieg von Fiasko zu Fiasko beobachten. Das Geheimnis ihres Erfolges besteht darin, daß er nicht vorhanden ist, und ihr Lorbeer beginnt zu welken, sobald man anfängt, sie zu verstehen.
Sie schreiben, dichten und dramatisieren in Runen. Weil Heraklit und Hegel, Hamlet und Tristan dunkel sind, tun sie dunkel und tauchen in die Vieldeutigkeiten der Sprache. Ihnen folgt der Schatten eines chorus mysticus mit der Schicksalsfrage: ist am Ende doch etwas dahinter? Und an diesem Fragezeichen hängt ihre Existenz.
Erst wenn das dahintersteckende in den Vordergrund tritt, wenn aus dem Verkannten ein Erkannter wird, ist es vorbei; auf die Dauer wird nämlich der Vieldeutige heute gar nicht verkannt. Das Exempel zwischen ihm und seinem Beurteiler braucht gar nicht glatt aufzugehen, ebensowenig wie das Exempel zwischen der Sprache an sich und dem Sprachkenner jemals glatt aufgeht. Vorausgesetzt wird eben wirkliche Vieldeutigkeit, nicht verlarvte Eindeutigkeit.
Wer es darauf anlegt, verkannt zu werden, der nimmt auch leicht die Figur des Weltschmerzlers an. Dann lebt er von den Sorgenrunzeln seiner Schriften und Gedichte. Träte ein unverhoffter Glücksfall ein, dann wäre es mit der Verhärmtheit zu Ende, und der Beglückte wüßte nicht mehr, was er weiter dichten soll. Das wäre eine Katastrophe für ihn. Verkanntsein, Nichtverstandenwerden und Wehleidigkeit gehören zu einander und können einem Dichter das Leben auf längere Weile hin ganz behaglich machen.
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Sollte es am Ende wie in Raum und Zeit auch im Kunsturteil ein Relativitätsprinzip geben? Wenn uns einmal eins bekannt wird, dann müßten wir aus ihm allerlei über die Geschwindigkeit des Urteils erfahren und über die Möglichkeit wiederum, die Geschwindigkeit zu beurteilen. Heut sind wir, ob jung ob alt, schnell fertig mit dem Wort. Wir lesen ein Werk, durchblättern einen Roman, hören ein Stück bis zur großen Mittelpause und wissen, was wir zu sagen haben. Das Leben, die Technik sind auf Geschwindigkeit eingestellt, warum nicht auch das Urteil? Weil der Irrtum lauert? Das ist kein Grund dagegen. Der Irrtum hat keine Uhr. Er kann der Minute aus dem Wege gehen
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