Das Geheimnis der Tarotspielerin: Zweiter Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
stellt.«
Aleander lachte geziert.
Im Schritttempo passierten die Maulesel die Untergeschosse der Fachwerkhäuser, in denen Tuch- und Juwelenhändler ihre Waren feilboten, Bader mit Schröpfkröpfen für ihr Handwerk warben und Metzger Schlachtstücke auf ausgeklappten Läden ausstellten. Bettler zwängten sich durch den Strom der Fußgänger auf die kleine Maultierkarawane zu und schlugen ihre Lumpenkittel hoch, um schwärende Wunden und zerschlagene Gliedmaßen vorzuzeigen.
»Aus dem Weg!«, schrie der Schmied und schlug mit den Zügeln nach ihnen aus. Maulend gaben die Bettler den Weg auf die Zugbrücke frei, die auf Höhe der Flussmitte lag und bei Bedarf die Durchfahrt bemasteter Segler ermöglichte. Obwohl sie herabgelassen war, geriet der Verkehr wie gewöhnlich ins Stocken. Bauern und Marktgänger legten beim Tordurchgang gaffend den Kopf in den Nacken. Nicht um das kunstvolle Seilzug- und Räderwerk zu bewundern, sondern um sich einen süßen Moment des Erschauerns zu gönnen. Kreuze wurden geschlagen, Gebete gemurmelt.
Lunettas Maultier scheute und begann einen nervösen Tanz. Das Stampfen seiner Hufe ließ die Holzbohlen vibrieren.
»Es wittert den Tod«, raunte Aleander im Ton eines Beschützers. »Schau lieber nicht nach oben. Was es dort zu sehen gibt, könnte dich an das mögliche Schicksal deines Vaters erinnern.«
Seine Worte waren eine weitere widerliche Parodie der Fürsorge und eine unnötige Warnung. Als Tochter eines kaiserlichen Diplomaten wusste Lunetta von der Attraktion, die Englands Bauern vor der Torburg verharren ließ.
Auf Stangen aufgespießt wurden auf dem Zugturm die Köpfe all jener ausgestellt, die es wagten, die Allmacht des Königs anzuzweifeln. In heißem Wasser gekocht und den Aasvögeln ausgesetzt, waren die Schädel in verschiedensten Stadien der Verwesung begriffen. Der Tod hatte reiche Ernte gehalten im zurückliegenden Sommer, als Heinrich jedem Untertan den Schwur abverlangt hatte, dass er in England Oberhaupt der Kirche und Anne Boleyn seine einzige Frau sei.
Von seinen drei Millionen Untertanen hatte es zwar nur eine Hand voll gewagt, den Eid zu verweigern, aber die Rache an ihnen war so umfassend gewesen wie die Begeisterung des Monarchen für sich selbst.
Die besten unter seinen Mönchen – Kartäuseräbte und barfüßige Franziskaner – hatten die schrecklichste aller Strafen durchlitten. Sie waren aufgehängt worden, bis sie das Bewusstsein verloren hatten, um sodann mit Essig wiedererweckt, bei lebendigem Leib ausgeweidet, entmannt und gevierteilt zu werden. Seinen ehemaligen Lordkanzler Sir Thomas More und den Bischof von Rochester hatte der König unter das Beil geschickt. Deren Köpfe allerdings hatte man abgenommen, als sie immer mehr Pilger angezogen hatten, die sich Fürbitte von diesen heiligmäßigen Männern versprachen.
Lunettas Maulesel riss nach links aus und streifte den Rücken eines jungen Mannes im zerschlissenen Gewand des fahrenden Scholaren. Er drehte sich nicht um, sondern spuckte aus. Lunetta bändigte den Esel und wollte um Verzeihung bitten, als sie erkannte, dass der Scholar nicht ihretwegen ausgespuckt hatte. Seine Verachtung galt der Ausstellung der Totenköpfe auf den Torzinnen. Rasch drängte er sich durch die gaffende Menge auf den Durchgang zu. Sein unverhohlener Zorn belebte ihr Herz und erfüllte sie jäh mit einer unmöglichen, fantastischen Hoffnung.
Sie stemmte sich in ihrem Sattel hoch, suchte in der Schar der Köpfe sein Barett. Doch plötzlich erfasste Unruhe die wogende Menge. Menschen sprangen fluchend zur Seite, suchten Schutz in Häusernischen, Händler klappten die Schauläden hoch, brachten ihre Waren in Sicherheit.
Das Donnern von hart beschlagenen Hufen ließ die Brücke auf der anderen Seite des Zugtores erbeben. Von der City kommend, sprengte eine Reiterkavalkade auf die Torburg zu. Schon passierten sie die Brückenkappelle des heiligen Thomas, die eben die zehnte Stunde läutete. Sonne fing sich auf ihren glänzenden Brustharnischen.
Der scharfe Ritt bauschte ihre schwarzgelben Prunkmäntel wie wollene Segel. Sie waren mit dem kaiserlichen Doppeladler verziert, dem Wahrzeichen spanischer Höflinge. Nichts hätte den Wappenspruch ihres Kaisers Karl majestätischer bebildern können als ihr rücksichtsloser Galopp über die Brücke: Plus Ultra – immer weiter!
Wie im Sturmangriff jagten sie auf das Zugtor in der Flussmitte zu. Vor ihnen teilte sich die Menge. Mütter rissen ihre Kinder aus dem Weg. Wer
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