Das Geheimnis der Tarotspielerin: Zweiter Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
sich bei der freigegebenen Tür, entrollte ein Pergament und hob auffordernd den Kopf. Höflinge drängten nach vorn. Mit einem Nicken wurde ihnen beschieden, ob sie das Recht hatten, tiefer in die Welt Heinrichs vorzudringen oder nicht.
Cromwell wartete mit gut gespielter Geduld, bis der Saaldiener ihn und Chapuys heranwinkte. Der Mann ließ sie nach einem ausführlichen Studium des Pergaments passieren. Sie betraten den sich anschließenden Raum. Es war der Audienzsaal mit dem Thron und Staatsbaldachin Heinrichs. Auch hier waren inzwischen Tafeln eingedeckt. Den ersten Gästen wurden entsprechend ihrem Rang Plätze zugewiesen. Auf Anrichten längs des Saales dampften die verschiedenen Gerichte eines zweigängigen Mahles.
Der würzige Geruch von teurem Rindfleisch stieg Chapuys in die Nase. Cromwell durchquerte den Saal mit arroganter Achtlosigkeit und zog den Spanier in den kleineren, aber weit exklusiveren Raum der Staatsdiener.
In der Mitte stand eine einzelne Tafel, die mit weißem Linnen bedeckt war. Chapuys registrierte die feinen, alles entscheidenden Unterschiede des Geschirrs. Statt Zinntellern erwarteten die Gäste hier goldene und silberne Platten, sogar Besteck mit königlichem Monogramm. Eitle Lords verschmähten es freilich, um ihre eigenen Wappenmesser vorzuführen. Zur Krönung der Luxustafel gehörten geschmiedete Tafelaufsätze, die Jagdszenen zeigten, und eine Kutsche mit raffinierter Mechanik. Spannte man eine Feder im Inneren des goldenen Fuhrwerks, glitt sie über die Mitte der Tafel und versprengte Rosenwasser zur Reinigung der Hände. So nah beim König wurden auch die Binsen, die den Steinboden bedeckten, täglich gewechselt und aller Unrat, der sich darin sammelte, entfernt.
Rot livrierte Pagen schlossen Kabinettschränke auf und holten weitere Kostbarkeiten hervor, wie silberne Salzfässchen zur freien Bedienung und venezianische Gläser statt Zinnbechern. Sie zuckerten die bereitstehenden Weine reichlich und richteten das manchet , das weiße Brot aus der Privatküche des Königs, in Körben aus geflochtenem Gold an.
Cromwell grüßte in Richtung einiger Lords und Ladys, die mit betont verächtlicher Miene die Handgriffe der Weinbutler und Brotreicher beobachteten. Zwar handelte es sich bei diesen Dienern ausnahmslos um jugendliche Rittersöhne von Rang, aber sie – die Lords – standen noch über ihnen.
»Kommt zum Fenster«, sagte Cromwell leise. »Dort können wir den Blick auf den königlichen Privatgarten genießen, bis die Speisen aufgetragen werden.«
Und du kannst der Verachtung der Lords für gewöhnliche Politiker wie uns entgehen, dachte Chapuys amüsiert.
Die beiden Männer tauchten in die relative Abgeschiedenheit einer Fensternische ab. Unter ihnen lagen die Gärten Heinrichs, die einer Zimmerflucht unter freiem Himmel glichen. Ein jeder war mit einer Sonnenuhr und Springbrunnen bestückt, bunt bemalte Wappentiere drehten sich auf goldenen Stangen über schwarzen Winterbeeten. Nahe dem Königstrakt waren es Englands Wappenlöwen in den Tudorfarben grün und weiß. Auf dem Weg zum gegenüberliegenden Palastflügel paarten sie sich mit den weißen Falken Anne Boleyns.
Cromwell entriegelte einen Fensterflügel und stieß ihn auf. Der einsame Schrei eines Pfaus scholl ihnen entgegen, begleitet von munteren Melodien der Stockfiedel, dem Geräusch temperamentvoller Springtänze und perlendem Gelächter aus Königin Annes Gemächern.
»Sie tanzt noch immer«, murmelte Eustace Chapuys. »Entweder ist diese Königin bemerkenswert unbekümmert oder wahnsinnig. Ahnt sie wirklich nichts?«
Als hätten seine Worte die Königin gewarnt, setzte mit einem Mal die Musik aus. Ein dissonanter Akkord verschwebte über den Gärten. Irritiert flog Chapuys’ Blick zu den Gemächern Annes.
Cromwell zuckte derweil die Achseln. »Sie ist noch immer guter Hoffnung.« Er senkte die Stimme. »Allerdings verzweifelt guter Hoffnung. Der König besucht sie nicht mehr und freundet sich zunehmend mit dem Gedanken an, dass sie eine Hexe ist und seinen Turnierunfall durch Zauberei bewirkt hat. Genau wie seine periodische Lendenschwäche und den Tod Katharinas.«
Chapuys lupfte die Brauen. »Was für eine überaus einleuchtende Erklärung für all seine Missgeschicke. Geradezu universell anwendbar! Nur, mit Verlaub, ein gesalbter König in den Fängen einer gewöhnlichen Hexe? Tststs. Das würde sein Ansehen unter Europas gekrönten Häuptern endgültig untergraben und Eure Reformation der
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