Das Geheimnis der toten Vögel
wir die Situation unter Kontrolle haben.«
Maria hatte das Gefühl, dass es sich hier nicht um die ganze Wahrheit handelte. Sie schaltete den Fernseher aus, als die Sendung in ein Gemurmel wütender Stimmen ausartete. Sie konnte nicht mehr zuhören. Konnte diese Leute einfach nicht mehr sehen, die konzentriert und entschlussfähig sein sollten, aber jetzt wie kleine Kinder herumstritten. Sie drehte eine Runde durchs Wohnzimmer, stand eine Weile bei Linda und sah, wie sie im Traum redete, drehte noch eine Runde durch die Wohnung. Als sie Emil anrief, hörte der sofort, dass sie sich Sorgen machte, obwohl sie versuchte, es zu verbergen.
»Mama, bist du traurig?«
»Ich wünschte, ich könnte bei dir sein, Emil. Das würde ich gern, weißt du?« Sie versuchte, ihn nicht merken zu lassen, dass sie weinte.
»Hör schon auf, Mama, ich komme klar. Ich chatte mit einem Typ, der Sebastian heißt, der ist total cool.«
Maria ging in die Küche und machte sich ein Brot, das sie dann nicht hinunterbekam. Die Bissen wurden im Mund immer größer. Sie stellte sich eine Weile ans Fenster. Die Straße war menschenleer. Nicht ein einziges Auto. Sie musste mit jemandem reden. Von ihren Sorgen erzählen. Bei Krister wollte sie nicht anrufen. Er würde augenblicklich angeschossen kommen und glauben, dass alles wieder so würde wie früher, das konnte sie nicht riskieren. Hartman schlief bestimmt schon, und Jesper Ek war zur Beobachtung im alten Sanatorium, und da durfte man nach 21 Uhr nicht anrufen. Mit wem konnte sie dann reden? Wie lange war wohl die Hotline besetzt? Maria wählte die Nummer und wartete. Jonatan Eriksson war sofort dran, als hätte er neben dem Telefon gesessen und auf ein Klingeln gewartet.
»Ich werde das hier nicht mit dir besprechen, solange du nicht bei dir bist. Das ist erniedrigend für uns beide. Jetzt leg dich schlafen, verdammt noch mal, und stör mich nicht länger.«
»Wie bitte?« Maria fragte sich, ob sie richtig gehört hatte. »Danke, dann habe ich keine weiteren Fragen mehr«, sagte sie und knallte den Hörer auf.
14
Jonatan Eriksson sah sogleich sein Versehen ein, als die Verbindung unterbrochen wurde. Der anhaltende Ton im Hörer bohrte sich in seine Eingeweide. Was hatte er gesagt? »Ich werde das hier nicht mit dir besprechen, solange du nicht bei dir bist. Das ist erniedrigend für uns beide.« Nach vier Anrufen von Nina, deren Ton immer unverschämter gewesen war, hatte er nicht erwartet, dass der fünfte von einer anderen Person sein könnte. In Intelligenztests nennt man das »logische Folge« – in der Wirklichkeit funktionierte es nicht so. Die Wirklichkeit ist selten logisch, und er hatte auch keine Rufnummernanzeige, mit deren Hilfe er sein Versehen hätte erklären können. Verdammtverdammtverdammt!
Jonatan drehte eine Runde durchs Zimmer und schlug mit der Faust an die Wände, bis ihm einfiel, dass die Bewohner der angrenzenden Zimmer sich vielleicht schon schlafen gelegt hatten. Ninas höhnische Stimme echote ihm noch im Kopf. Sie wolle ihm nur sagen, dass sie ihren Sohn von der Schwiegermutter wiedergeholt habe, und die »verdammte Alte« habe keinerlei Recht, sich ohne Erlaubnis ins Haus zu begeben und ihn zurückzuholen. Danach war der weinerliche Anruf gekommen, dass doch alles wieder gut werden sollte. »Verzeih mir! Verzeih mir! Mein geliebter Jonatan, es soll nie wieder passieren. Nie wieder. Ich liebe dich, und sowie du aus Follingbo rauskommst, verreisen wir gemeinsam. Können wir nicht die Reise nach Paris machen, von der wir immer geträumt haben? Nur du und ich? Malte kann bei deiner Mutter bleiben, und wir hätten Zeit für uns, so wie früher, als wir keine einzige Minute ohne einander sein konnten. Erinnerst du dich an die Sandkuhle auf Fårö, erinnerst du dich, wie wir am Meer miteinander geschlafen haben? Erinnerst du dich an den Urlaub in Smögen? Wir brauchen einen Neuanfang. Wir hatten eine etwas anstrengende Zeit, aber ich verspreche dir, dass alles besser wird.«
Der Anruf, den er eben von ihr bekommen hatte, bewies das Gegenteil. »Ich höre doch, dass du getrunken hast! Lüg mich nicht an, Nina! Das Mindeste, was man verlangen kann, ist, dass du es zugibst. Du bist betrunken.« An diesem Punkt war das Einverständnis zerplatzt. »Das geht dich einen Scheißdreck an, kümmer du dich um deinen tollen Job, dann kümmer ich mich um meinen. Wenn du mir nur die Wertschätzung entgegenbringen würdest, die
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