Das Geheimnis der toten Vögel
kann die Medikamente selber zahlen, verdammt noch mal, wenn sie nur überlebt, wenn wir nur alle überleben! Ich habe Sie schon bezahlt, verdammt, wissen Sie, wie viel Steuern ich im Monat zahle? Wissen Sie das? Wenn meine Frau stirbt …«, er platzierte seine geballte Faust unter Åsas Kinn und drückte zu, »… dann kommen auch Sie nicht lebend hier raus.«
Sie war nicht imstande gewesen, sich zu verteidigen. Tränen war ihr in die Augen gestiegen, als sie davongewankt war. Bisher war sie immer ohne Probleme auf hochhackigen Schuhen gelaufen, aber auf dem Kopfsteinpflaster in Visby erwies sich das als lebensgefährliches Unterfangen. Vor dem schmalen kleinen Haus am Hästbacken, das »Bügeleisen« genannt wurde, war sie mit dem Absatz zwischen zwei Steinen hängen geblieben und vornüber auf die Knie gefallen. Es tat immer noch sehr weh, und mit dem Schmerz waren die Tränen gekommen. Die angesammelten Tränen von Tagen der Überforderung bei der Arbeit überspülten sie wie ein Sturzbach, und als das Weinen einmal angefangen hatte, war es nicht aufzuhalten. Eine ältere Frau war stehen geblieben und hatte ihr übers Haar gestrichen.
»Was ist denn los?« Und Åsa war mit ins »Bügeleisen« gegangen und hatte eine Tasse Kaffee getrunken. Als sie da drinnen von ihren Sorgen erzählen sollte, war sie sich albern und verwirrt vorgekommen und hatte eine Halbwahrheit über Rückenbeschwerden hervorgestottert.
»Nun ja, etwas mehr als das wird es aber doch gewesen sein, nicht wahr?« Die ältere Frau besaß ein so ernsthaftes und doch freundliches Lächeln, und ihre zichorienblauen Augen hatten direkt durch die Schale geblickt, hatten sie als das kleine Mädchen gesehen, das sie in diesem Moment gewesen war.
»Etwas mehr als das war es schon«, hatte Åsa zugegeben. »Ich bin nicht gut genug.«
Da hatte die Frau gelacht, ein warmes und freundliches Lachen. »Das macht nichts, niemand ist gut genug. Man muss versuchen, sich selbst zu verzeihen, dass man nicht perfekt ist. Niemand ist perfekt. Das ist das große Geheimnis. Wir tun nur so. Als ich fünfzig wurde, habe ich beschlossen aufzuhören, mich zu schämen. Ich arbeite immer noch daran. Wann wollen Sie anfangen? Wenn Sie jetzt anfangen, sind Sie, bis Sie in mein Alter kommen, vielleicht frei wie ein Vogel. Möchten Sie ein Papiertaschentuch?« Sie wühlte in ihrer Handtasche und holte ein Paket mit zerknitterter Plastikhülle hervor.
Danach fühlte Åsa Gahnström sich erstaunlicherweise besser, auch wenn die Probleme dieselben waren wie vor der Mittagspause. Der entsetzliche akute Mangel an Medikamenten gegen die Vogelgrippe und an gewöhnlichen Antibiotika. Aber nicht nur das. Alle Personen, die Samstagnacht mit Petter Cederroth Taxi gefahren waren, abgesehen von dem Kollegen Reine Hammar, waren mit der Vogelgrippe infiziert – und eine Person wurde vermisst. Genau in dem Moment, als man annehmen durfte, dass die Epidemie unter Kontrolle sei, war eine Lücke entdeckt worden. Eine unbekannte blonde Frau, die sich das Taxi mit Reine Hammar geteilt hatte. Bis das Gegenteil bewiesen war, musste man davon ausgehen, dass auch sie infiziert war. Das Gespräch mit Reine Hammar war zu einem regelrechten Streit ausgeartet, und es hatte damit geendet, dass sie ihm gedroht hatte, wenn er nicht zusammenarbeiten wolle, würde sie wegen weiterer Informationen mit Frau Hammar Kontakt aufnehmen. Und plötzlich hatte sich die Erinnerung aufgehellt, und eine Adresse war aus dem Gedächtnis gesickert. Mit Hilfe der Polizei hatte man einen Namen und eine Telefonnummer herausbekommen, doch trotz wiederholter Versuche war keine Malin Berg anzutreffen gewesen. Der Arbeitgeber, ein Restaurantbesitzer im Außenbezirk der Stadt, sagte, Malin Berg habe sich am Sonntag krank gemeldet. Nichts Ungewöhnliches. Es sei nicht der erste Montag gewesen, an dem sie nicht zur Arbeit gekommen sei. »Offenbar ein anstrengendes Privatleben«, sagte er in ironischem Ton.
Mit der Zustimmung der Staatsanwaltschaft gab es jetzt den Beschluss, in die Wohnung einzudringen, um zu sehen, ob die Frau da war. Aber welcher Arzt würde freiwillig hineingehen? Trotz wiederholter Aufrufe im Radio und Fernsehen, dass das Krankenhauspersonal dringend Verstärkung benötigte, hatte sich niemand, nicht ein einziger Mensch gemeldet. Einer der Angefragten hatte auf eine frühere SARS-Epidemie hingewiesen, während der zwei Narkoseärzte trotz Schutzausrüstung angesteckt worden waren.
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