Das Geheimnis der toten Vögel
langsam hinsetzte. Nur vorsichtig, er durfte sie nicht so erschrecken, dass sie floh.
»Das könnte ich auch fragen«, sagte er dann und klang ein wenig verärgert. »Cecilia hat mir versprochen, dass ich hier ungestört würde arbeiten können.«
»Entschuldigen Sie, ich …«
»Klas Strindberg«, stellte sich Hans vor und reichte ihr die Hand. Bei einer seiner Internetbekanntschaften hatte er die Rolle eines Romanautors gespielt, sodass er jetzt nur ein maßgeschneidertes Kostüm überwerfen musste. Ein schnarrendes Geräusch auf dem I, ein schwaches Kratzen auf dem R, und das Kinn arrogant in den Hals sinken lassen, das ergab die richtige Mischung. Das hatte er vor dem Spiegel geübt, und er wusste, welchen Eindruck es machte. Das Haar hätte er eigentlich zum Seitenscheitel kämmen müssen, aber das musste aufs nächste Mal verschoben werden.
Sie nahm seine Hand mit einem kalten, feuchten Griff und lächelte vorsichtig. Die Zähne waren ungleichmäßig und ein wenig schief. Er fand, das hatte einen gewissen Charme.
»Ich bin nur die Nachbarin. Ich sollte die Blumen gießen. Cecilia hat mir nicht gesagt, dass …«
»Natürlich hat sie das nicht. Wenn jeder wüsste, dass ich hier bin, dann würde ich niemals Ruhe zum Arbeiten finden. Die Zeitungen rufen an. Rundfunk und Fernsehen wollen Interviews. Meine Leser lassen keine Chance aus, ihre Bücher signieren zu lassen, und mein Verleger schwebt wie ein Geier über mir und erwartet Ergebnisse.« Die Frau verfolgte seine Geste in der Luft. Einfältiges Menschlein, dachte er. Sie sah nach nicht viel aus. Viel zu zugeknöpft, als dass es die Mühe wert wäre, aber da konnte man sich natürlich auch täuschen. Nur weil sie so aussah, als käme sie aus der Formularabteilung der Rentenkasse, musste sie ja nicht völlig uninteressant sein.
»Wie machen wir es dann mit den Blumen?«, fragte sie.
»Mit den Blumen?« Erst begriff er nicht, wovon sie redete. Die Blumen und die Bienen, fuhr es ihm durch den Kopf. Vielleicht war sie etwas tiefer gelegt, aber von außen sah sie ganz normal aus. Dann fiel sein Blick wieder auf die Gießkanne, und er begriff. »Die können Sie mit nach Hause nehmen. Ich brauche Ruhe, wissen Sie. Wenn ich kreativ bin, muss ich die Worte auf der Zunge zergehen lassen und spüren können, was für einen Nachgeschmack sie haben. Haben Sie schon einmal daran gedacht, dass Worte einen Nachgeschmack haben? Tausende von Menschen lesen meine Gedichtsammlungen, und ich darf sie nicht enttäuschen. Die Erwartungen werden immer höher.«
»Phantastisch! Ihre Gedichte verkaufen sich in solchen Auflagen? Wie heißen Sie noch mal, Klas Strindberg? Ich habe noch nie von Ihnen gehört, tut mir leid.« Ihr Blick bekam plötzlich etwas Neugieriges und Hungriges, und sie ließ sich überraschenderweise auf der Bettkante nieder. »Schreiben Sie unter Pseudonym?«
»Es ist lange her, seit ich mit etwas Neuem rausgekommen bin. Normale Menschen verstehen ja nicht, was für eine Kraft es erfordert, seine innersten dynamischen Eindrücke zu statischen Worten zusammenzuschmelzen – das ist, als würde man sein eigenes abgeschlagenes Haupt auf einem Silbertablett servieren, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Einer von Mutters Lieblingsausdrücken, die war verdammt literarisch drauf gewesen.
»Und bei welchem Verlag veröffentlichen Sie?«
»Warum eine so oberflächliche Frage? Das kann Sie doch kaum interessieren, oder? Sie sind eine Frau mit ganz anderen Tiefen und Qualitäten, so etwas erkenne ich.«
»Ach ja, was sehen Sie denn?« Sie beugte sich vor. Die Oberlippe zitterte ein wenig, nicht viel, aber er fand, sie sah aus wie ein Kaninchen, und konnte nicht umhin zu lächeln.
»Was ist denn daran so witzig?«, fragte sie, ohne den Blick von ihm zu wenden. Sie wirkte jetzt ein wenig mürrisch, er musste sich wirklich vorsehen. »Welche Qualitäten habe ich, was glauben Sie?«
»Sie sind zuverlässig und können ein Geheimnis bewahren. Hm, darf ich mal Ihre schönen Hände anschauen? Sie haben keine Schwielen. Sie sind weich. Man sagt, die Augen seien der Spiegel der Seele, aber das ist so verdammt banal. Ich sage immer, die Hände sind der Spiegel der Seele. Keine Ringe – eine Frau mit vielen Möglichkeiten.« Er strich über ihren Handrücken und drehte ihre Handfläche nach oben. »Die Lebenslinie ist stark. Aber die Linie für Liebe und Lust ist an mehreren Stellen unterbrochen.« Er
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