Das Geheimnis der toten Vögel
tot war, dass die Zeit sie mit Gewalt genommen hatte, war er davongerannt. War in den Morast gelaufen, ohne weiterzukommen. War gekrochen, bis er aus der Reichweite ihrer weißen, dünnen Arme kam. Dieses Geheimnis, das von zweien geteilt wird, von denen einer tot ist, ist ein wohlgehütetes Geheimnis, hatte er gedacht. Aber er konnte sich nicht erinnern, was eigentlich geschehen war. Er versuchte, ruhig und tief zu atmen, wieder die Kontrolle über seine unregelmäßige Atmung und den harten Schlag des Herzens zu gewinnen.
Jetzt lag er da und starrte auf das bauschige Gardinenarrangement und fragte sich, wo er wohl gelandet war. In der Hölle der bestickten Baumwollgardinen zu Hause bei Cecilia Pferdegesicht, das war es. Er brauchte sofort etwas zu trinken. Der hefeartige Geschmack von Gotlandsdricka stieß ihm sauer auf, und er fragte sich, ob er wirklich so verzweifelt gewesen war, dass er eine ganze Flasche davon getrunken hatte.
Hans Moberg stolperte in die Küche, um Kaffee aufzusetzen. Ein neuer sonniger Tag schien ihm in die Augen. Er sah auf den hübschen Garten mit gepflegten Rabatten und Beeten, in denen Salatköpfe und Dill und Mohrrübenkraut in schnurgeraden Reihen standen. Wie spät es wohl war? Erst vier. Er hatte drei Stunden geschlafen. Das Treffen mit der Kuschelmaus aus Skåne am Abend zuvor war überhaupt nicht so gewesen, wie er es sich erträumt hatte. Als die Frau nicht kam, war er ausgestiegen und hatte eine Runde zum Hafen gedreht. Der Mond hatte sich im Wasser gespiegelt. Vielleicht hatte er deswegen hinterher so seltsame Träume gehabt. Es war, als sähe er in der Mondstraße Sandras bleiches Gesicht, das jeden Moment direkt unterhalb der Wasseroberfläche auftauchen und ihn mit seinen dunklen Augen anklagen würde. Als er am Kai gestanden hatte, hatte er eine Autotür schlagen hören. Er war zurückgelaufen, um zu sehen, ob die Frau aus Skåne gekommen war. Doch er konnte kein anderes Auto sehen, und als er die Polizisten bemerkte, die den Hafen bewachten, damit niemand die Insel verlassen konnte, machte er sich schnell davon. Erst als er sich ins Bett legen wollte, merkte er, dass seine Brieftasche weg war. Er suchte im Haus, erinnerte sich aber dann, dass er sie ins Auto gelegt hatte. Sie war zu dick und ausgebeult gewesen, um darauf sitzen zu können, und deshalb hatte er sie aus der Hosentasche genommen und neben sich gelegt. Doch als er in der Garage das Auto durchsuchte, konnte er die Brieftasche nicht finden. Es fiel ihm ein, dass er sie vielleicht mitgenommen hatte, als er aus dem Auto ausstieg, vielleicht hatte sie auch jemand gestohlen. Das Auto war nicht abgeschlossen gewesen. Also war er zum Industriehafen zurückgekehrt und hatte die Gegend abgesucht, doch eine Brieftasche hatte er nicht gefunden. Es war zu blöd.
Hans Moberg legte sich auf Cecilias Bett und schaltete das Radio ein. Auf der ganzen Insel waren Sportveranstaltungen und Konzerte aufgrund der Ansteckungsgefahr abgesagt worden, und Restaurants durften nur eine begrenzte Anzahl Gäste aufnehmen. Der Busverkehr war eingestellt und alle Kinderkrippen geschlossen worden. Die Seuchenschutzärztin versuchte, diese Entscheidung zu erklären, aber die Menschen waren aufgebracht. Weiber! Er mochte ihnen nicht zuhören, sondern schaltete auf den Sender P1 um. Dort war blöderweise auch die Vogelgrippe Thema, aber der Ton der Gespräche war ruhiger und sachlicher.
»Ein schwedischer dreiundsiebzigjähriger Arzt, Johan Hultin, hat vor acht Jahren eine Expedition nach Alaska unternommen, wo er ein Massengrab aus dem Jahre 1918 untersuchte. Alle Bestatteten waren der Spanischen Grippe zum Opfer gefallen. Ziel der Expedition war es, Gewebeproben aus den Lungen der Verstorbenen zu entnehmen, um das Virus, das die Krankheit verursacht hatte, isolieren und untersuchen zu können. Johan Hultin gelang, woran andere vor ihm gescheitert waren. Der Virusstamm, den man mit Hilfe des eingefrorenen Materials entwickeln konnte, wird jetzt im Center for Disease Control in den USA aufbewahrt …«
Hier irgendwo musste Hans Moberg eingeschlafen sein. Als er erwachte, stand eine Frau mit einer Gießkanne in der Hand in der Tür und starrte ihn an. Wahrscheinlich hatte sie geschrien. Ihr Mund stand immer noch offen.
»Wer sind Sie?«, fragte sie, nachdem sie geräuschvoll Luft geholt hatte. Ihre Augen hinter den dicken Brillengläsern waren rund und sehr blau, und sie schienen noch größer zu werden, als er sich
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