Das Geheimnis der toten Voegel
dachte nach. Draußen im Garten ging Berit Hoas herum und sammelte ihre Wäsche ein. Unter den Küchenhandtüchern hatte sie ihre Unaussprechlichen in Lachsrosa aufgehängt, damit niemand sah, dass sie die gewaschen hatte. Was für eine scheußliche Farbe, Lachsrosa. Ruben kicherte ein wenig. Berit war auch nicht verheiratet. Kein Wunder bei derart rekordverdächtiger Unterwäsche. Da war kein Platz für Leichtsinn und schamloses Flirten. Von seinem Aussichtsplatz im Taubenschlag hatte er schon Hemden und Korsetts im Wind wehen sehen, und die waren mindestens ebenso furchterregend wie die lachsrosa Hosen mit Bein. Aber natürlich hatte Berit auch ihre guten Seiten. Sie rannte nicht herum und tratschte, und sie war hilfsbereit. Wenn er Berit um Rat fragen würde? Ruben holte sein Handy heraus. Er benutzte es nicht oft, und die Knöpfe waren für ihn immer noch ungewohnt. Eigentlich hatte er es vor allem deshalb, weil die anderen Kerle im Brieftaubenclub alle ein Handy hatten.
»Berit Hoas«, meldete sie sich, und Ruben brachte sein Anliegen vor.
»Ich glaube, dass sie Medizin brauchen, aber ich denke, es wäre nicht so günstig, mit dem Tierarzt zu reden. Du hast nicht zufällig irgendetwas zu Hause? Was Starkes?«
»Du meinst Penizillin? Ich glaube, ich habe noch ein klein wenig in einer Flasche von damals, als meine Schwester Angina hatte. Sie kann keine Tabletten schlucken, und deshalb hat sie flüssige Medizin bekommen, aber die schmeckte so widerwärtig, dass sie die Kur nach der Hälfte abbrach, als sie sich besser fühlte. Ich durfte den Rest behalten, für den Fall, dass ich mich angesteckt hätte, als ich dort war. Aber ich habe es nie gebraucht.«
Ruben lächelte und fühlte sich trotz des Fiebers durch die gute Nachricht gestärkt. »Wenn du diesen Rest entbehren könntest, werde ich dir ewig dankbar sein.«
»Bist du sicher, dass es so gut ist, den Tauben Penizillin zu geben? Ich meine, kann man Menschen und Tieren dieselbe Medizin geben?«
Da war eine neue Schärfe in ihrer Stimme, das war die Lehrerinnenstimme, die er gar nicht mochte und die eine Antwort verlangte.
»Das ist gar kein Problem. Könntest du vielleicht mit der Medizin zu mir raufkommen? Ich bin im Taubenschlag.«
Wenn man die Medizin auf eine Spritze zog und dann die Nadel abnahm, würde man sie den Tauben direkt in den Schnabel spritzen können, genau wie Angela es gemacht hatte, als sie die Taube gefüttert hatte, die der Habicht in die Krallen gekriegt hatte. Angela, Angela, Angela. Das ging nicht mehr so weiter. Er musste mit den Dummheiten aufhören und an etwas anderes denken. Ruben rieb sich die Bartstoppeln. Bestimmt hatte er vergessen, sich zu rasieren.
»Gestern war ein Maler hier, der seine Bilder verkaufen wollte«, sagte Berit, während sie sich die Treppe raufquälte. »War der auch bei dir?«
»Nein.« Ruben hatte den ganzen Tag keinen Menschen gesehen. Am Vormittag war er am Hafen gewesen und hatte Fisch gekauft. Aber danach war er die ganze Zeit zu Hause geblieben. »Das gefällt mir gar nicht, wenn hier Leute rumschleichen. Vielleicht sollte man doch besser die Tür abschließen.«
»Er tat mir so leid«, sagte Berit. »Er konnte kein Schwedisch, hatte aber einen Zettel dabei, auf dem auf Englisch stand, dass er Geld sammeln müsse, weil sein Sohn eine neue Niere bräuchte. Kidney heißt doch Niere, oder?«
»Keine Ahnung. Ich mag das nicht, wenn die um Geld betteln. Hat er denn keine Arbeit?« Ruben murmelte einen langen Fluch vor sich hin, während er darauf wartete, dass sie die Treppe raufkommen möge.
»Er malt Bilder. Richtig schöne Bilder, mit dem Meer drauf und Schilf und Booten und …«
»Hast du ihm ein Bild abgekauft? Dann werden wir den jetzt dauernd hier haben, da kannst du Gift drauf nehmen.«
»Er tat mir leid. Stell dir vor, du hättest einen Jungen, der krank wäre und eine neue Niere bräuchte, Ruben. Da würde man doch alles Mögliche tun, um das Geld für die Operation zusammenzukriegen.«
4
Am nächsten Tag wachte Ruben erst um elf Uhr auf. Eine Fliege wanderte stur über seinen Nasenrücken. Er vermochte sie nicht zu verscheuchen. Die Laken rochen säuerlich nach Schweiß und hatten sich um seine Beine gewickelt. Der Durst war es schließlich, der ihn aus dem Bett trieb. Die Zunge fühlte sich im Mund wie ein Stück Holz an, und ihm war so schwindelig, dass er sich am Bücherregal festhalten musste, das beängstigend schwankte und fast auf ihn fiel. Als er das Wasser direkt aus dem
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