Das Geheimnis der toten Voegel
verloren hatte. Tomas Hartman wich seinem Blick nicht aus.
»Ja, sie ist tot. Wann haben Sie denn mit ihr geredet? Können Sie sich daran erinnern? Wann kann das gewesen sein?«
»Ich wollte sie, verdammt noch mal, zu Hause besuchen. Das war kurz nach elf gestern Abend. Ich hatte eine Runde im Vigoris Health Center gedreht, und ich wollte mich einfach nur mit ihr treffen … Entschuldigen Sie bitte, ich muss mal wohin.«
Hartman sah sich in der sparsam eingerichteten Küche um. Ein kleiner, runder, mit Weinflecken bedeckter Kiefernholztisch, dazu zwei Stühle. Keine Blumen im Fenster, keine Gardinen, das Geschirr quoll aus der Spüle. Eine vorübergehende Wohnstätte, kein Zuhause. Über dem Küchentisch hing ein nachlässig angebrachtes Pinnbrett aus Kork mit hellblauem Holzrahmen. In der einen Ecke steckte der Zettel für einen Zahnarzttermin und darunter ein Rezept für »Fliegender Jakob«, eine Art Hähnchengeschnetzeltes. Fast völlig von Tankbelegen bedeckt war ein Foto. Hartman bog die Papierstreifen beiseite, um es besser sehen zu können. Das Bild von einem glücklichen Paar. Ein Lennie mit etwas hellerem Haar stand hinter Sandra und umarmte sie, und sie sah schräg von der Seite zu ihm hoch und lächelte. Ein wunderbares Bild, voller Wärme und Liebe, das war nicht zu übersehen. Irgendwann einmal hatten sie sich sehr geliebt, was war dann geschehen? Lennie brauchte ewig da draußen auf der Toilette. Vielleicht weinte er und wollte es nicht zeigen. Nach zehn langen Minuten war er wieder da.
»Sind Sie ganz sicher, dass sie tot ist? Haben Sie es selbst gesehen?« Eine verhaltene Bitte: Sag, dass es nicht wahr ist.
»Sie ist tot.«
»Das kann nicht sein, sie gibt Raucherentwöhnungskurse. Heute Abend hat sie einen, und ich wollte hingehen. Das Erste, was sie gemacht hat, als sie mich kennen lernte, war, mein Zigarettenpäckchen zu zerkrümeln. Du musst wählen, hat sie gesagt. Das Laster oder die Lust. Männer, die rauchen, werden impotent. Ich oder die Zigaretten. In dem Punkt ließ sie nicht mit sich verhandeln. Wenn ich mit ihr zusammen sein wollte, dann musste ich aufhören zu rauchen und zu saufen. Aber das war es auch wert.« Lennie Hellström lächelte ein trauriges Lächeln und schüttelte seinen buschigen schwarzen Haarschopf. Seine großen graublauen Augen sahen jetzt sehr, sehr traurig aus.
»Was geschah dann?«
»Geschah?« Lennie Hellström saß eine Weile da, pulte Dreck unter seinem Daumennagel hervor und versuchte, die richtigen Worte zu finden. Er legte das Gesicht in die Hände, sodass man nur noch seine Haare sah, und seufzte tief. »Was dann geschah? Das habe ich bis heute nicht begriffen. Wir haben uns nicht über Geld gestritten, wir haben uns nicht über Sex gestritten, wir haben uns nicht darüber gestritten, wer im Haushalt was machen sollte. Aber sie hat sich verändert, ist so eigenartig geworden. Sie konnte eine Stunde lang dasitzen und aus dem Fenster starren, ohne dass draußen auf der Straße überhaupt was passierte. Oder herumgrübeln, und wenn ich fragte, was denn sei, dann meinte sie, nichts, aber ich wusste sehr wohl, dass irgendwas war. Sie ließ mich nicht mehr in ihre Gedanken, und da bin ich natürlich nervös geworden. Habe mich gefragt, ob es einen anderen gab. Sie arbeitete viel. Zusätzliche Schichten. Überstunden. Nach irgendwelchen Partys hat sie bei Freundinnen übernachtet. Ich wollte sie nicht kontrollieren. Ganz zu Anfang hat sie mal gesagt, dass Freiheit und Vertrauen das Wichtigste in einer Beziehung seien. Ihr Exfreund habe ihr hinterherspioniert. Deshalb habe sie mit ihm Schluss gemacht, sagte sie. In dem Punkt war ihre Logik ein wenig seltsam. Sie sagte, solange man sie in Ruhe lasse, würde sie auch die Verantwortung dafür tragen, treu zu sein, aber wenn jemand sich unterstehen würde, sie zu kontrollieren, dann hätte der die Verantwortung übernommen, und dann wäre ihr Erfindungsreichtum, was Gelegenheiten zur Untreue beträfe, geradezu uneingeschränkt. Genau das hat sie gesagt. Vielleicht war es ja auch ein Witz. Oder es war das erste Anzeichen dafür, dass sie die Nase voll hatte von mir.«
»Was geschah denn dann? Haben Sie angefangen, sie zu kontrollieren?«
»Verdammt, ja, das habe ich wohl getan. Ich war so verdammt eifersüchtig. Ich habe ihre Mails gecheckt. Die meisten waren von irgendeinem freien Journalisten, der Florian Westberg heißt, ein verdammt dröger Typ. Ich habe ein paar Artikel von ihm gelesen. Er schreibt über
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