Das Geheimnis der toten Voegel
dich nach Follingbo, damit du sehen kannst, wie es dem Jungen geht, und dann meldest du dich wieder, wenn du nach Visby zurück möchtest. Okay?«
»Ja, ich muss jetzt bei ihm sein. Ich kann an nichts anderes denken. Es ist wie ein Albtraum. Sie haben gesagt, noch weitere elf Kinder sind krank geworden, und es gibt keine Medizin für sie. Es gibt nicht genügend Beatmungsgeräte und nicht genug Pflegepersonal auf der Insel, wenn sie richtig krank werden, und der Infektionsarzt hat, als ich ihn richtig unter Druck gesetzt habe, zugegeben, dass sogar die Betten knapp werden könnten. Was geschieht denn jetzt? Wenn Emil jetzt noch im Fußballcamp in Klinte wäre, dann würde ich ihn sofort abholen, und wenn ich mit Gewalt an meinen Kollegen vorbeimüsste. Die Polizisten, die vor der Schule Wache schieben, tun mir leid – was könnten die schon machen, wenn die Eltern verlangen würden, ihre Kinder rausholen zu dürfen? Das gäbe das reinste Chaos. Was würde man denn mit Eltern machen, die versuchen, an ihnen vorbeizukommen? Sie mit Schlagstöcken zusammenschlagen? Festnehmen?«
Die Wohnsiedlung in der Rutegatan sah gepflegt aus, kein Geschmiere oder irgendwelche sichtbaren mutwilligen Zerstörungen. Abgesehen von einem rostigen Kinderfahrrad mit Stützrädern, das auf die Wiese geworfen war, standen die Fahrräder in Reih und Glied in ihren Ständern. Eine nette Umgebung, wenn auch nicht so exklusiv wie die Signalgatan.
Hartman stieg dann die zwei Treppen zu der Wohnung hoch, in der Lennie Hellström wohnte. Er musste fünfmal klingeln, ehe jemand die Tür öffnete. Ein Mann mit buschigen schwarzen Haaren und nur mit einer Unterhose bekleidet öffnete die Tür und starrte den Eindringling aus kleinen müden Augen abschätzig an.
»Tomas Hartman von der Polizei, darf ich reinkommen?«
»Worum geht es? Sie haben mich geweckt. Ist was passiert?«, fragte Lennie Hellström, als er das ernste Gesicht von Hartman sah. Er strich das Haar mit beiden Händen zurück und gähnte, sodass man die schwarzen Plomben hinten im Mund sehen konnte. »Ich habe erst …«, er blinzelte und sah auf seine Armbanduhr, »… knapp drei Stunden geschlafen. Ist es was Wichtiges?«
»Ja. Es ist vielleicht das Beste, wenn wir reingehen und uns hinsetzen.« Hartman zeigte seinen Dienstausweis, um seine Rolle deutlich zu machen, da er ja keine Uniform trug. Immer noch zögernd öffnete Lennie die Tür, sodass Hartman so gerade unter seiner haarigen Achselhöhle hindurchschlüpfen konnte. Der Geruch von altem Schweiß und Bier wurde stärker. Die ganze Wohnung roch nach ungewaschener Sportkleidung, schimmeligem Müll und sauer gewordener Milch. Hartman machte einen großen Schritt über eine riesige Sporttasche und einen Haufen Kleider im Flur und folgte in die Küche. Lennie ging zum Kühlschrank und machte sich ein Bier auf, das er direkt aus der Dose trank.
»Möchten Sie auch eins?« Er griff nach einem weiteren Bier. Als Hartman dankend ablehnte, trank er selbst schweigend und unterdrückte ein Rülpsen. »Okay, was wollen Sie? Hartman war Ihr Name, nicht wahr?«
»Ich komme gerade aus der Signalgatan.«
»Mein Gott, Sandra! Was ist mit Sandra?«
»Wir haben eine Frau in der Wohnung gefunden. Tot – und, ja, wir glauben, dass es Sandra Hägg ist.« Hartman machte eine Pause, damit seine Worte vordringen konnten. »Können Sie uns irgendein besonderes Merkmal von ihr nennen, Narben, Muttermale oder dergleichen?«
»Das ist nicht wahr! Merkmal? Sandra hat auf der einen Pobacke einen Strichcode eintätowiert. Das hat sie im Sommer machen lassen, sie fand das cool. Was ist passiert?«
»Ein Nachbar von Sandra hat heute Nacht die Polizei gerufen. Er war von lautem Lärm aufgewacht und versuchte herauszukriegen, woher der kam. Die Tür zu Sandras Wohnung stand offen, und als er hineinkam, sah er die Zerstörung. Da war sie bereits tot. Sie lag in ihrem Bett. Erdrosselt.«
Lennie Hellström starrte vor sich, als würden die Worte völlig an ihm vorbeigehen. Er ging zum Kühlschrank, öffnete das nächste Bier und trank es in drei eiligen Schlucken. Hartman wartete.
»Tot?«, flüsterte Lennie mit einer weit entfernten Stimme. »Sandra soll tot sein? Sie kann nicht tot sein. Ich habe kürzlich erst mit ihr geredet. Sie lügen, verdammt noch mal, ich habe doch grade erst mit ihr geredet!« Der Tonfall wurde aggressiver, und er schien einen Widerstand zu brauchen, etwas, wogegen er schlagen konnte, um das zurückzuholen, was er
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