Das Geheimnis der toten Voegel
fühlte den Puls der Frau. Ein dünnes und unregelmäßiges Ticken unter der Haut. Jetzt geht schon ran! Schließlich kam sie durch und brachte ihr Anliegen vor. Sie versprachen, einen Krankenwagen zu schicken. Aber es würde eventuell eine Weile dauern, wenn der Zustand nicht direkt lebensgefährlich war. Derzeit waren alle Krankenwagen im Einsatz.
»Ich kann nicht beurteilen, ob es lebensgefährlich ist. Sie atmet nur sehr unregelmäßig …« Das Gespräch wurde unterbrochen, noch ehe Maria den letzten Satz beendet hatte. Sie feuchtete ein Handtuch mit kaltem Wasser an und kühlte damit die Stirn der Frau, um sie zum Aufwachen zu bringen. Die Haut fühlte sich so warm und verschwitzt an. Ein Gedanke nahm Form an. Wenn es nun kein Alkoholrausch war? Vielleicht hatte sie Fieber und war richtig krank. Ansteckend? Woher konnte man wissen, ob sie nicht die Grippe hatte?
22
Sobald Nina Eriksson mit dem Krankenwagen weggebracht worden war, fuhr Maria ins Polizeigebäude, wo sie als Erstes eine heiße Dusche nahm und sich unter dem Wasserstrahl rot schrubbte. Nach und nach steigerte sie die Temperatur bis an die Grenze des Erträglichen, als ob sich das Virus in ihre Haut gesetzt hätte und abgewaschen werden könnte. Rational betrachtet wusste sie ja, dass das nicht der Fall war. Es gab keinerlei Belege dafür, dass Nina an der Vogelgrippe erkrankt sein könnte. Es war nur ein Gedanke oder eher ein Gefühl von Krankheit und Tod und Verfall, das sich mit der Erinnerung an den schrecklichen Fund von Sandra Hägg vereinigte, der Frau, die in ihrer Wohnung erdrosselt worden war. Die Fotografien am Schwarzen Brett von dem Mann, den man in Värsände gefunden hatte, krochen in sie hinein. Sein schwarzes lockiges Haar, die Narbe auf seinem Brustkorb und der breite Schnitt an seinem Hals, die offenen Augen, die sie geradewegs ansahen. Es war einfach zu viel Krankheit und Tod. Eine Angst, die sich nicht länger mit dem Verstand steuern ließ. Wie wehrte man sich dagegen? Maria widerstand dem Impuls, sich noch einmal unter das reinigende Wasser zu stellen, band ihr nasses Haar zu einem Pferdeschwanz und ging in ihr Zimmer.
Der Empfang hatte mitteilen lassen, dass die Schwester von Sandra Hägg auf dem Weg sei. Maria begrüßte Clary Hägg im Flur. Eine magere Frau mit dunklem wogendem Haar in einer Frisur, die in den Achtzigerjahren modern gewesen war. Pudelschnitt. Sie sah aus, als wäre sie um die fünfunddreißig, ungeschminkt und nicht sehr sorgfältig in ihrer Kleiderwahl. Das T-Shirt hatte Ketchupflecken, und die sackförmigen Hosen waren verknittert und ausgebeult. Sie sah Maria mit braunen Augen an, die so groß und glänzend waren, als würde sie jeden Moment anfangen zu weinen.
Maria schaltete das Tonband ein und begann mit den Standardfragen, nachdem sie ein paar Worte des Mitgefühls gesagt hatte, die jedoch eher dürftig und platt wirkten. Eine Tasse Kaffee oder ein Arm um die Schulter wären sicher von größerem Nutzen gewesen. Aber Clary hatte beides abgelehnt und saß reserviert und zusammengekauert auf dem Besucherstuhl. Nicht alle Menschen schätzen Körperkontakt, für manche ist es nur belastend und peinlich, wenn ein Fremder sie berührt.
»Ich habe Sandra über ein halbes Jahr lang nicht gesehen. Seit Mamas Geburtstag nicht. Wir haben seither nicht mal miteinander telefoniert. Wir haben uns gestritten, das ist so schrecklich – jetzt, nachdem das passiert ist. Ja, ich habe versucht, den Kontakt aufrechtzuerhalten, aber Sandra wollte nicht. Nicht seit ich zu ihr gesagt habe, dass sie Lennie verlassen müsse. Das war voriges Jahr an Weihnachten.«
»Ist da etwas Besonderes passiert?«
»Keiner in unserer Familie mochte Lennie sonderlich.« Clary lag noch etwas der Zunge, aber sie zögerte. Dann seufzte sie schwer und ließ, während sie darüber nachdachte, wie sie es formulieren sollte, den Blick auf ihre Hände sinken, die sie auf dem Schoß liegen hatte. »Er war so überheblich und unberechenbar und launisch. Den einen Moment charmant und im nächsten Augenblick ein richtiges Arschloch, wenn Sie mich fragen. Konnte plötzlich wegen irgendeiner Kleinigkeit in die Luft gehen. Ich weiß nicht mehr, wie wir darauf gekommen sind, aber – ja, ich glaube, Mama war es, die anfing von Sandras erstem Freund zu reden und wie dumm es doch gewesen sei, als sie damals zum Zelten nach Fårö gefahren seien und die Zeltstangen zu Hause vergessen hätten. Sie hatten nur das Zelt selbst dabei, und es fing an zu
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